Die Erfahrungen aus Südkorea und Japan haben gezeigt, dass mobile Anwendungen gerade in den sogenannten "Risikogruppen" bei der Überwachung sozialer Kontakte wirksam sein können. Damit können sie bei der Bekämpfung der Verbreitung des Coronavirus eine wichtige Rolle spielen. Die Idee, Technologien zur Überwachung der Bürger, insbesondere ihrer Bewegungen und ihres Gesundheitszustands, einzusetzen, setzt sich auch in Europa immer mehr durch.
Die meisten Menschen scheinen dazu bereit zu sein, einige ihrer Rechte zu beschneiden, um die Verbreitung von COVID-19 zu stoppen.
In Italien hat die Ministerin für technologische Innovation und Digitalisierung, Paola Pisano, vor kurzem die Akteure aus Wirtschaft und Informationstechnologie aufgefordert, der Regierung die technischen Mittel zur Umsetzung eines Plans zur Überwachung und Bekämpfung der Verbreitung von Covid-19 per Smartphone-App zur Verfügung zu stellen. Es ist anzunehmen, dass das Modell nicht ausschließlich auf der Auswertung von Big Data basieren, sondern mittels GPS-Informationen von Smartphones ein Profil der Bevölkerung erstellen und ihre Bewegungen und möglicherweise ihren Gesundheitszustand überwachen soll.
Diese Methode basiert auf dem Grundgedanken, dass der gegenwärtige Ausnahmezustand den Einsatz außergewöhnlicher Mittel rechtfertigt, auch wenn dies auf Kosten u.a. des Rechts auf Privatsphäre geschieht. Dieses Argument scheint auch von der Mehrheit der Bevölkerung mitgetragen zu werden. Umfragen (BVA DOXA 10.-19. März 2020; SWG 25.-27. März 2020) haben gezeigt, dass die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger eine Kontrolle ihrer Bewegungen und sozialen Aktivitäten befürworten würde, wodurch ihr Recht auf Privatsphäre und Datenschutzrechte zugunsten des übergeordneten öffentlichen Gesundheitsinteresses zurücktreten würde.
Sollten wir von den Menschen wirklich erwarten, einen Kompromiss zwischen Privatsphäre und Gesundheit einzugehen?
Angesichts des Ausnahmezustands scheint heute die Nutzung solcher Technologien immer wahrscheinlicher. Im Piemont zum Beispiel wurde vor kurzem vorgeschlagen, dass einige Fabriken wieder öffnen können, wenn sich die Arbeiter der digitalen Kontrolle ihrer Bewegungen unterwerfen. In diesem Szenario könnten die Arbeitnehmer vor der Wahl stehen, ob sie ihr Recht auf Privatsphäre an Dritte übertragen und ihren Arbeitsplatz behalten, oder ob sie dieses Recht schützen wollen und damit riskieren, ihren Arbeitsplatz zu verlieren.
Wenn dieses System des "Tauschhandels" von Rechten (Privatsphäre gegen Gesundheit und/oder Arbeit) erst einmal validiert ist, bietet es sich als Präzedenzfall für die Ausübung sozialer Kontrolle zum Schutz öffentlicher Interessen an (z.B. zur Unterdrückung von Straftaten, aber die Liste ist potentiell endlos).
Hinzu kommt die Gefahr eines möglichen Missbrauchs solcher Technologien als Methode der sozialen Kontrolle und der Unterdrückung abweichender Meinungen (die bereits durch die Aussetzung des Versammlungsrechts geschwächt wurden).
Das gegenwärtige System kann diesem Druck auf die Rechte nicht standhalten
Schließlich ist zu bedenken, dass die Einführung solcher Kontrollsysteme zu einem beispiellosen Druck auf die Privatsphäre und die Datenschutzrechte der Bürger führen würde, dem das derzeitige Regulierungssystem nicht gewachsen zu sein scheint.
Es liegt auf der Hand, dass das Kontroll- und Repressionspotenzial durch den Einsatz neuer Technologien innerhalb eines Ökosystems neuer Rechte, das die Grenzen der Technologien und die Vorkehrungen für die Nutzung angibt, eingerahmt und begrenzt werden muss.
Wir befinden uns in einem historischen Moment des Übergangs von einem existentiellen Paradigma zu einem anderen, aus sozialer, technologischer und rechtlicher Sicht. Es ist jedoch unerlässlich, den Aktionen, die in dieser Zeit der emotionalen Reaktion auf die Coronavirus-Pandemie stattfinden, besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Wenn wir die technologische Büchse der Pandora öffnen besteht die Gefahr, dass wir nicht über die richtigen Werkzeuge verfügen, um sie auch wieder zu verschließen.