Die Judikative ist ein System von Gerichten, die für die Auslegung, Verteidigung und Anwendung der Gesetze des Landes und die Beilegung von Rechtsstreitigkeiten zuständig sind. Die meisten von uns haben (hoffentlich) im Laufe ihres Lebens nur wenig mit der Justiz zu tun, man könnte also meinen, dass das Gerichtssystem nur einen geringen Einfluss auf unser Leben hat.
In Wirklichkeit kommt der Judikative als Hüterin der Grundwerte der Gesellschaft eine prägende Rolle zu und in Zeiten politischer Instabilität ist sie eine Quelle der Beständigkeit. Sie sorgt dafür, dass demokratische Standards auch in Krisenzeiten aufrechterhalten werden, und begrenzt den Schaden, den autoritäre Kräfte anrichten können, wenn sie an der Macht sind.
Ob die Gerichte die Demokratie wirksam schützen können, hängt jedoch davon ab, wie frei sie sind.
Obwohl die Judikative im Namen des Staates handelt, ist sie von der Legislative, die Gesetze schafft, und der Exekutive, die regiert, getrennt. In einer demokratischen Gesellschaft sollte die Justiz unabhängig von der Regierung und frei von politischer Einflussnahme sein.
Was ist die Rolle der Justiz in der Gesellschaft?
Demokratie wird oft als "Mehrheitsherrschaft" angepriesen, aber das Wesentliche einer demokratischen Gesellschaft ist, dass in ihr die Meinungen aller Menschen gleichwertig berücksichtigt werden. Zu den Aufgaben der Justiz gehört es deshalb, dafür zu sorgen, dass alle Menschen gleich behandelt und durch das Gesetz geschützt werden, unabhängig von ihrem Geschlecht, ihrer Religion oder ihrer Hautfarbe.
Die politischen Werte der Regierung können sich drastisch ändern, je nachdem, welche politische Partei an der Macht ist. Da die Justiz jedoch unabhängig von der Exekutive ist, sind unsere Grundrechte vor Eingriffen der Regierung geschützt, unabhängig davon, was die Mehrheit gerade davon hält. Das ist besonders wichtig für marginalisierte Bevölkerungsgruppen. Eine beliebte Taktik korrupter Politiker/innen ist es, Minderheiten zum Sündenbock zu machen, um die Öffentlichkeit von ihren eigenen schlechten Leistungen abzulenken.
Eine unabhängige Justiz stellt sicher, dass alle, auch Minderheiten, Zugang zu bestimmten Rechten haben, die ihnen nicht genommen werden können. In unserem Rechtsstaatlichkeitsbericht 2023 hat unsere belgische Partnerorganisation zum Beispiel dargelegt, dass die belgischen Gerichte die belgische Regierung verurteilt haben, weil sie ihre Verpflichtungen gegenüber Asylsuchenden verletzt hat, indem sie ihnen keine Aufnahme gewährte.
Die Justiz spielt auch eine wichtige Rolle bei der Aufrechterhaltung der Rechtsstaatlichkeit, indem sie sicherstellt, dass die Regierung, genau wie wir anderen, das Gesetz befolgt. Damit stellt sie sicher, dass alle Maßnahmen des Staates eine rechtliche Grundlage haben müssen. So verhindert sie, dass machtgierige Politiker*innen ihr Amt ausnutzen und hilft gleichzeitig, die Kohärenz zwischen aufeinanderfolgenden Regierungen zu wahren.
Was sind die Aufgaben und Verantwortlichkeiten der Judikative?
Eine der wichtigsten Aufgaben der Judikative ist es, unsere Rechte zu schützen, wenn Regierungen und mächtige Unternehmen versuchen, sie uns zu nehmen. Wenn der Staat in einer Weise handelt, die unsere Würde nicht respektiert, können wir uns auf unsere Rechte berufen, um eine bessere Behandlung zu fordern und sicherzustellen, dass die Regierung ihre Macht nutzt, um unser Leben zu verbessern. Auf diese Weise hauchen die Gerichte den Rechten, die in Verfassungen und internationalen Verträgen geschützt sind, Leben ein.
Dies ist besonders in Krisenzeiten wichtig, wenn der Staat Notstandsbefugnisse nutzen kann, um unsere Menschenrechte zu schwächen, denn diese durchaus legitime Möglichkeit birgt immer die Gefahr, dass diese Befugnisse missbraucht werden.
Als nicht-politischer Akteur sollte die Justiz ihre Entscheidungen auf Grundlage der Gesetze treffen und nicht in Abhängigkeit davon, was Politiker dazu zu sagen haben. In unserem letztjährigen Bericht zur Rechtsstaatlichkeit hat unser polnisches Mitglied beschrieben, welche Rolle die Justiz dabei gespielt hat, die Regierung davon abzuhalten, grundlegende Menschenrechte und Freiheiten während der Covid-19-Pandemie übermäßig einzuschränken. So schützte das Woiwodschaftsgericht in Warschau im Mai 2021 die Versammlungsfreiheit, als es die Ordnungsstrafe gegen eine Frau aufhob, die gegen das Abtreibungsverbot in Polen demonstrierte.
Eine unabhängige Justiz ist auch entscheidend für die Gewährleistung freier und fairer Wahlen und eines reibungslosen Machtwechsels. Wenn ein Wahlergebnis angefochten oder eine Beschwerde über die Fairness des Wahlverfahrens eingereicht wird, werden die Gerichte angerufen, um über das Ergebnis zu entscheiden. In Deutschland erklärte der Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin die Wahlen im Jahr 2021 für ungültig, weil es zu Unregelmäßigkeiten gekommen war, z. B. unzumutbare Wartezeiten, Wahllokale, in denen keine Stimmzettel mehr vorhanden waren, und andere, in denen die falschen Kandidaten aufgeführt waren. Daraufhin wurden die Wahlen im Jahr 2023 neu angesetzt.
Was bedeutet Unabhängigkeit der Justiz?
Die Unabhängigkeit der Justiz bezieht sich auf die Trennung zwischen der Justiz und anderen Staatsgewalten sowie auf die Unabhängigkeit der Gerichte von privaten oder politischen Interessen.
Diese Unabhängigkeit ist entscheidend für die Rolle der Justiz als Hüterin unserer Grundrechte. Wir wissen, dass wir uns darauf verlassen können, dass die Justiz unsere Grundrechte schützt, wenn sie sich bei ihren Entscheidungen ausschließlich auf das Gesetz stützt und sich nicht von mächtigen gesellschaftlichen Akteuren wie Politikern oder Konzernen bevormunden lässt.
Wir betrachten Gerichte als frei, wenn Richter/innen unabhängig ausgewählt werden, wenn sie ihren Job keiner politischen Partei verdanken und wenn sie wissen, dass sie Fälle nach dem Gesetz entscheiden können, ohne Angst haben zu müssen, bestraft zu werden.
Obwohl die richterliche Unabhängigkeit ein Eckpfeiler der EU-Werte ist, kann angesichts der ernsthaften Bedenken unseres polnischen Mitglieds, die im jüngsten Rechtsstaatlichkeitsbericht von Liberties aufgezeigt wurden, leider nicht mehr davon ausgegangen werden, dass Polens Gerichtssystem frei ist. Seit 2021 bis heute ist es eine gängige Form der Repression gegen polnische Richterinnen und Richter, sie zu suspendieren oder in andere Gerichtsabteilungen zu versetzen, denn die Absetzung einiger Richterinnen war eindeutig politisch motiviert. Der Inhalt von Gerichtsentscheidungen wird offen als Grund für eine Amtsenthebung genannt.
Auch wenn Polen mit seinem Ausmaß an politischer Einmischung ein Sonderfall ist, ist die Bedrohung der richterlichen Unabhängigkeit in vielen europäischen Ländern ein Grund zur Sorge. In Spanien ist das Verfahren zur Auswahl von Richtern politisiert, während in Deutschland in vielen Fällen Richter nur dann für Spitzenpositionen gewählt werden, wenn sie mit den großen politischen Parteien verbunden sind. In Ungarn berichtete ein hochrangiger Richter am Budapester Stadtgericht, dass er und seine Kollegen auf der Richterbank "seit mehreren Jahren Zeugen externer und interner Beeinflussungsversuche" sind, darunter auch Diskussionen über die Entlassung des Ermittlungsrichters in einem Fall, in den ein Abgeordneter der Fidesz (der rechtspopulistischen Regierungspartei) verwickelt war, der beschuldigt wurde, Schmiergelder angenommen zu haben.
Warum sind freie Gerichte notwendig?
Eine freie Justiz stellt sicher, dass alle nach den gleichen Regeln spielen, unabhängig von der Macht und dem Geld, über die sie verfügen. Das wirkt als Zügel für die Mächtigen und hilft, das enorme Machtungleichgewicht zwischen dem allmächtigen Staat und den einzelnen Bürgerinnen und Bürgern auszugleichen.
Wenn Politiker/innen uneingeschränkte Macht haben, gibt es niemanden, der sie daran hindert, ihr öffentliches Amt zu missbrauchen oder sie zur Rechenschaft zu ziehen, wenn sie unsere Grundrechte verletzen. Das öffnet den politisch Verantwortlichen Tür und Tor, um gegen die Interessen des Volkes zu handeln, z. B. indem sie öffentliche Gelder veruntreuen, anstatt sie für lokale Dienstleistungen wie Schulen und Krankenhäuser auszugeben.
Verfahren wie die gerichtliche Überprüfung geben den Bürgerinnen und Bürgern die Möglichkeit, auf Entscheidungen zu reagieren, die sie für ungerecht oder rechtswidrig halten, und stärken die Kontrolle von Politikern und öffentlichen Einrichtungen. Das Wissen, dass es diesen Mechanismus gibt, hält Beamte davon ab, ihre Macht zu missbrauchen, und sorgt dafür, dass es Konsequenzen gibt, wenn sie es doch tun.
Wenn Regierungen jedoch Druck auf Richter/innen ausüben, werden nicht nur wichtige Kontrollmechanismen außer Kraft gesetzt, auch die Wahrnehmung der Gerichte durch die Öffentlichkeit leidet darunter. Wenn Bürgerinnen und Bürger wissen, dass sich die Politik in das Justizsystem einmischt, sinkt ihr Vertrauen, dass sie eine faire Anhörung oder ein gerechtes Urteil bekommen, wenn sie gegen den Staat klagen. Das wiederum schwächt ihre Fähigkeit, die Gesellschaft zu gestalten und mitzubestimmen, wie sie regiert werden.
Frankreich wurde beispielsweise wegen der mangelnden Unabhängigkeit der Staatsanwälte kritisiert, die vom Justizministerium und nicht von den Justizbehörden ernannt werden. Wie problematisch diese Regelung ist, zeigt sich besonders deutlich im Fall von Eric Dupond-Moretti, dem französischen Justizminister, dem ein Interessenkonflikt vorgeworfen wird und der dafür zuständig ist, den für seinen eigenen Fall zuständigen Staatsanwalt vorzuschlagen. Der Fall Dupond-Moretti hat viele Fragen über die Unabhängigkeit der Justiz aufgeworfen und das allgemeine Vertrauen der Öffentlichkeit in die französischen Gerichte erschüttert.
Die Unabhängigkeit der Justiz ist für eine gesunde Demokratie unerlässlich, denn sie stellt sicher, dass alle Menschen unabhängig von ihrer Herkunft oder ihrem sozialen Status den gleichen Zugang zum Rechtssystem haben. Deshalb ist der Schutz der Freiheit der Gerichte ein zentrales Anliegen von Liberties und eines der wichtigsten Themen, die wir in unserem Jahresbericht zur Rechtsstaatlichkeit dokumentieren.