Technologie & Rechte

Verhaltensorientierte Werbung: Eine Selbstreflexion

Durch Real-Time Bidding können, ohne dass Du dem jemals zugestimmt hättest, intime und sehr detaillierte Informationen über Dich in Datenbanken von Unternehmen landen, von denen Du noch nie gehört hast.

by Orsolya Reich

Wenn Du die Zeit verlangsamen könntest, ich meine wirklich verlangsamen, dann könntest Du sehen, dass die Anzeigen auf vielen der von Dir besuchten Websites nicht einfach darauf warten, gesehen zu werden. Es braucht Zeit, wenn auch sehr wenig, bis Dich die Werbetreibenden mit ihnen bedienen. Dich. Nicht jemand anderes. Du landest auf einer Seite, wirst identifiziert, wirst vermessen, dann entscheiden potenzielle Werbekunden, ob Du Dich lohnst, sie ringen ein wenig, und schließlich nutzt der Gewinner die Gelegenheit, Deine Aufmerksamkeit zu erregen. Voila. Jetzt erhältst Du eine Anzeige für die besten rosa Laufschuhe für gemischte Oberflächen für Menschen mit neutralem Gang. Fantastisch. Du bist glücklich. Neben der Möglichkeit, den Artikel zu lesen, für den Du die Webseite ursprünglich besucht hast, erhältst Du ein paar potenziell nützliche kommerzielle Informationen. Alles ist gut, für alle. Du wirst nicht durch Anzeigen gestört, an denen Du kein Interesse hast. Die Werbetreibenden werfen ihr Geld nicht aus dem Fenster. Es ist alles sehr effizient. Hoch lebe die Effizienz.

Leider ist das noch nicht die ganze Geschichte. Und die ganze Geschichte ist etwas weniger rosig. Was ich gerade als Ringkampf um die Möglichkeit beschrieben habe, die Aufmerksamkeit potenzieller Werbetreibender auf sich zu ziehen, wird in der Welt der Werbung als "Real-Time Bidding" [Echtzeit-Bieten], kurz RTB, bezeichnet. In den Millisekunden, in denen RTB stattfindet, werden Informationen über Dich an Hunderte oder Tausende von Unternehmen übertragen. Das könn Informationen sein über Deinen genauen Standort, über das, was Du online liest, hörst oder ansiehst, Informationen über Deine Gesundheit oder Dein Sexualverhalten und sie können unverwechselbare Codes beinhalten, die Unternehmen ermöglichen, Dir auch weiterhin online zu folgen. Das heißt, durch RTB können intime und sehr detaillierte Informationen über Dich in Datenbanken von Unternehmen landen, von denen Du noch nie gehört hast, ohne dass Du dem jemals in irgendeinem echten Sinne zugestimmt hättest.

Niemand weiß wirklich, was mit all diesen persönlichen Daten passiert, wer sie wann und wie verwendet. Vermutlich wollen die Unternehmen, die die Standards für RTB setzen, Dich gar nicht verraten und verkaufen. Aber, wie unser Kampagnen-Partner Bits of Freedom betont, machen sie es möglich und tun nichts dagegen. Du erinnerst Dich vielleicht daran, dass Facebook die Weitergabe personenbezogener Daten ermöglicht und nichts dagegen unternommen hat. Damals hatten wir den Skandal um Cambridge Analytica und einige demokratisch fragwürdige neue politische Machthaber. Etwas ganz Ähnliches könnte auch mit Real-Time Bidding passieren. Und diese Praxis gefährdet im Übrigen nicht nur Deine Demokratie. Auch Du selbst bist in Gefahr. Es fehlen Maßnahmen, die es Dir erlauben könnten, die effektive Kontrolle über Deine persönlichen und manchmal sehr intimen Daten zu behalten. Daten, die direkt mit Dir in Verbindung gebracht werden können, werden übertragen.

Einige zucken jetzt vielleicht mit den Schultern und summen "is mir egal". Warum solltest du verstecken wollen, was du, als ehrlicher und gesetzestreuer Mensch, liest und wo du dich aufhältst? Aber dafür gibt es vielleicht eine ganze Reihe von sehr berechtigten Gründen. Ich selbst habe ein sehr gutes Verhältnis zu meinem Chef und meinen Kollegen, trotzdem möchte ich nicht, dass sie bestimmte intime Details über mein Leben erfahren. Informationen, die sich leicht aus dem ableiten lassen, was ich im Internet so lese. Und ich bin ein relativ uninteressanter Lobbyist, der in einem sehr liberalen Land lebt. Menschen, die unter weniger glücklichen Umständen leben, können viel dringendere Gründe haben, bestimmte (völlig legale) Aspekte ihres Lebens für sich behalten zu wollen. Außerdem kann das zum Beispiel Deine Chancen auf eine angemessene Krankenversicherung, auf einen guten Job, oder auf einen günstigen Bankkredit betreffen.

An dieser Stelle wirst Du Dich vielleicht fragen, warum wir, wenn wir von Liberties solche Hardliner in Sachen Schutz personenbezogener Daten sind, immer noch auf verhaltensorientierte Werbung setzen, um unsere Botschaften auf Facebook zu übermitteln, wo Du höchstwahrscheinlich auf diesen Artikel gestoßen bist. Erstens, wir verwenden kein RTB. Zweitens kritisieren wir niemanden, der RTB zum Verkauf seiner Produkte nutzt. Wir kritisieren diejenigen, die die Industriestandards setzen und wir wollen, dass sie die Gesetze einhalten, was sie derzeit, soweit wir das beurteilen können, nicht tun.

Diejenigen von Euch, die über einen sehr starken moralischen Kompass verfügen, könnten sagen, dass wir zwar die Unternehmen und Organisationen, die RTB nutzen um ihre Produkte oder Ideen zu verkaufen, nicht direkt kritisieren, aber das natürliche Fazit unserer Argumente müsste trotzdem sein, dass diese Unternehmen tatsächlich moralisch korrupt sind. Denn durch die Teilnahme an dem Prozess zeigen die Unternehmen ein moralisch korruptes Verhalten. Das Einzige, was Sie tun können, um Ihre moralische Integrität als Unternehmen oder als Organisation wie Liberties zu bewahren, ist also die totale Abstinenz. Kein RTB, keine gezielte Werbung auf Facebook, nichts dergleichen.

Aber vergiss bitte nicht, dass dies kein besonders gutes moralisches Argument ist. Die reale Welt ist chaotisch. Manchmal sind Dinge, die auf den ersten Blick schlecht sind, genau das Richtige, wenn man das große Ganze betrachtet. Wenn Du z.B. ein Unternehmen leitest, das umweltbewusste Produkte verkauft, dann schieße Dir doch bitte um Himmels willen nicht selbst ins Bein und verschaffe Dir einen Wettbewerbsnachteil, indem Du auf verhaltensorientierte Werbung verzichtest. Benutze sie es erst einmal. Aber setze Dich gleichzeitig für eine Welt ein, in der Unternehmen diese Form der Werbung nicht nutzen müssen, um wettbewerbsfähig zu bleiben und in der die personenbezogenen Daten der Menschen sicher aufbewahrt werden.

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