Liberties hat seinen dritten Bericht über den Zustand der Rechtsstaatlichkeit in der Europäischen Union veröffentlicht. Dieser umfassende Bericht enthält neben einem Überblick über allgemeine Trends auch 17 einzelne Länderberichte, die von Liberties Mitglieds- und Partnerorganisationen verfasst wurden. Es wird untersucht, wie gut die Mitgliedsstaaten der EU beim Schutz von Demokratie, Gerechtigkeit und Rechtsstaatlichkeit abschneiden.
Der Schattenbericht greift dem Jahresbericht 2022 der Europäischen Kommission zur Rechtsstaatlichkeit vor, der im Laufe des Jahres veröffentlicht werden soll und ist nach den von der Kommission festgelegten Prioritäten und Indikatoren gegliedert.
Eines der sechs Themen, die in dem Bericht behandelt werden, ist die Frage, ob die Regierungen die für den Erhalt der Rechtsstaatlichkeit essentielle Arbeit zivilgesellschaftlichher Organisationen (CSO) unterstützen. Indem sie den Stimmen marginalisierter Gemeinschaften eine Plattform bieten und für eine unabhängige Kontrolle sorgen, sammeln CSO Belege für Verstöße gegen die Grundrechte der Menschen und schlagen Alarm, wenn die Rechtsstaatlichkeit verletzt wird oder bedroht ist
Warum die trüben Aussichten?
Im Rahmen der Länderberichte bat Liberties unsere Mitgliedsorganisationen, die Fortschritte ihres jeweiligen Landes in den einzelnen Themenbereichen mit folgendem Bewertungssystem zu bewerten: Rückschritt, kein Fortschritt, Fortschritt. Der Schutz des zivilen Raums erhielt die schlechteste Bewertung von allen Kategorien. Von den 14 Organisationen, die sich mit dem Thema befasst haben, wurden 7 Länder als rückschrittlich und die anderen 7 als nicht fortschrittlich eingestuft. Keine einzige Organisation war der Meinung, dass ihre Regierung Fortschritte gemacht hat, um günstige Rahmenbedingungen für die Zivilgesellschaft zu schaffen.
Der diesjährige Bericht zeigt, dass sich viele der im letzten Jahr aufgezeigten Probleme noch verschlimmert haben. Zivilgesellschaftliche Organisationen waren durch das Gesetz nicht ausreichend vor Verleumdungskampagnen, Belästigungen und Angriffen geschützt, während gleichzeitig immer neue Regeln in Bezug auf Finanzierung und Protestaktionen eingeführt wurden, die ihre Aktivitäten schwächen oder einschränken.
Unzureichend geschützt: Belästigung, Verleumdungskampagnen, SLAPPs
Aus mehreren Ländern wurde berichtet, dass es vermehrt zu Angriffen - sowohl online als auch offline, sowohl physisch als auch verbal - gegen Bürgerrechtsaktivisten kam, wobei Gruppen, die sich für LGBTQI+-Themen einsetzen, besonders betroffen waren. Schweden berichtete, dass die Intensität von Hassreden und Drohungen gegen gefährdete Gruppen wie Frauen, LGBTIQ+ und ethnische Minderheiten so stark wurde, dass sich diese Gruppen dazu genötigt sahen, öffentliche Aktivitäten zu unterlassen. In Bulgarien unterstützte die Polizei Anti-Pride-Demonstranten am Pride-Tag, indem diese ihnen erlaubte, von ihrer ursprünglich angegebenen Route abzuweichen, um LGBTQI+ Pride-Teilnehmer einzukreisen.
Anstatt Schutz zu bieten, verschließen die Regierungen die Augen vor Übergriffen auf zivilgesellschaftliche Organisationen, wobei einige sogar die öffentliche Wut und einen spaltenden Diskurs schüren. Eine häufige Taktik von Regierungsvertretern und Behörden in Kroatien, Ungarn und Slowenien sind Verleumdungskampagnen gegen regierungskritische zivilgesellschaftliche Organisationen mit dem Ziel, ihre Forderungen zu diskreditieren.
Zivilgesellschaftliche Organisationen wurden auch durch die Androhung von SLAPPs (Strategic Lawsuits Against Public Participation) behindert. Dabei handelt es sich um missbräuchliche Strafverfolgungen und Klagen ohne seriöse Rechtsgrundlage, die von Unternehmen oder Politikern eingesetzt werden, um zivilgesellschaftliche Organisationen zum Schweigen zu bringen. Unser irisches Mitglied wies auf eine bemerkenswerte Zunahme von SLAPPs hin, mit denen die Bemühungen von Umweltorganisationen um eine gerichtliche Überprüfung behindert werden. Aus Polen wurde berichtet, dass SLAPPs gegen zahlreiche Aktivist/innen eingesetzt werden, die sich gegen "Anti-LGBT-Zonen" einsetzen.
Verschärft wurden diese Probleme durch den schwachen gesetzlichen Schutz vor Hate-Speech und SLAPPs, der zivilgesellschaftlichen Organisationen in einem zunehmend feindseligen Umfeld wenig Deckun bietet.
Überreguliert: Auflagen schränken die freie Meinungsäußerung ein und behinderdern die Finanzierung
Der rechtliche Rahmen für die Zivilgesellschaft bietet nicht nur zu wenig Schutz, vielmehr lässt er sich auch aktiv gegen die zivilgesellschaftlichen Aktivitäten zur Wahrung der Rechtsstaatlichkeit instrumentalisieren. Deshalb haben zivilgesellschaftliche Organisationen in mehreren Ländern Alarm geschlagen, weil neue Gesetze erlassen wurden, die ihre Arbeit einschränken.
In Frankreich schränkte ein neues Anti-Separatismus-Gesetz die Vereinigungs- und Meinungsfreiheit ein, indem es von den Organisationen verlangte, sich an das nebulöse Konzept der "nationalen Werte" zu halten, wenn sie nicht riskieren wollen, öffentliche Mittel zu verlieren, oder sogar aufgelöst zu werden. Die jüngste Auflösung des CCIF (Kollektiv gegen Islamophobie in Frankreich) und der CRI (Koordination gegen Rassismus und Islamophobie) zeigt, dass die Regierung bereit ist, diese Drohung auch wahr zu machen.
Zudem gibt es nach wie vor Probleme mit der Einschränkung der Vereinigungsfreiheit, wie z.B. die fortgesetzte Weigerung in Bulgarien, zivilgesellschaftlichen Organisationen, die sich für ethnische Minderheiten einsetzen, zu erlauben sich registrieren zu lassen, oder die Beschränkung der Ausgaben von zivilgesellschaftlichen Organisationen in Irland aufgrund von Vorschriften für politische Werbung, oder die Kriminalisierung der humanitären Hilfe für Asylsuchende und Migranten in Belgien und Kroatien. Auch wenn das Anti-NGO-Gesetz in Ungarn 2021 aufgehoben wurde, wurde es durch ein überarbeitetes Gesetz ersetzt, das weiterhin in die Autonomie von CSOs eingreift.
Einzig in Estland wurden während der Pandemie bürokratische Hürden für zivilgesellschaftliche Organisationen abgebaut, indem bestimmte Verwaltungsvorschriften gelockert wurden.
Ein besorgniserregender, länderübergreifender Trend sind die zunehmenden Schwierigkeiten, mit denen zivilgesellschaftliche Organisationen konfrontiert sind, wenn sie versuchen, Zugang zu Finanzmitteln zu erhalten. Die Finanzierungsrahmen in Kroatien, Estland, Frankreich, Deutschland, Ungarn, Irland und Slowenien haben zu Komplikationen geführt, die die Arbeit von NROs beeinträchtigen. In Deutschland beispielsweise führte die Rechtsunsicherheit im Zusammenhang mit einem Gesetz, das das politische Engagement von steuerbefreiten CSO auf Themen der Abgabenordnung beschränkt, zu einer Selbstzensur bei vielen Organisationen, die sich zuvor gegen antidemokratische und rechtsextreme Themen ausgesprochen hatten, sowie zu einem enormen bürokratischen Aufwand. In Kroatien führten langwierige und veraltete Verfahren bei der Finanzierung der Arbeit von CSO zu diskriminierenden Prozessen, die CSO mit geringeren Kapazitäten benachteiligen.
Watchdogs: Die Wächterrolle wird untergraben
Ob zivilgesellschaftliche Watchdog Organisationen ihrer Wächterfunktion gerecht werden können, hängt davon ab, inwieweit sie frei sind, die Regierung zu kritisieren, ohne dabei ihre eigene Existenz aufs Spiel zu setzen. Dieser Mechanismus sowie das Recht auf freie Meinungsäußerung werden untergraben, wenn zivilgesellschaftliche Organisationen die Auflösung oder den Entzug ihrer Gemeinnützigkeit befürchten müssen, wie in Estland, Deutschland, Irland und Frankreich, weil sie sich für Themen einsetzen, die von Politikern als zu "politisch" bezeichnet werden.
Des Weiteren wiesen zivilgesellschaftliche Organisationen in mehreren Ländern auf die Gefährdung des Rechts auf Protest hin, entweder aufgrund unzureichender gesetzlicher Bestimmungen oder gerade wegen repressiver Einschränkungen. Im Zuge der Pandemie führten die Regierungen gesundheitliche Bedenken als legitimen Grund an, um die Versammlungsfreiheit - immerhin ein Grundrecht - einzuschränken, indem sie Proteste einschränken oder verbieten.
Dieses Problem wurde besonders in den Berichten aus Belgien, Bulgarien, Slowenien und Spanien hervorgehoben, wo die Beschränkung von Protesten mit dem Missbrauch von Polizeigewalt bei der Überwachung von Versammlungen einherging. Nach Angaben unseres slowenischen Mitglieds wurden Gruppendemonstrationen im Jahr 2021 mehrmals von der Regierung verboten. In Bulgarien wurden Aufnahmen von Sicherheitskameras veröffentlicht, auf denen zu sehen ist, wie sieben Jugendliche, die an einer Demonstration gegen die Regierung teilnahmen, von der Polizei gewaltsam überwältigt werden.
Ausschluss vom juristsichen und politischen Entscheidungsprozess
In der Summe laufen diese Beschränkungen darauf hinaus, dass zivilgesellschaftliche Organisationen davon ausgeschlossen werden, eine aktive Rolle bei der Gestaltung der öffentlichen Debatte zu übernehmen und sich im Zusammenhang mit der Pandemie in en Entscheidungsprozess darüber einzubringen, wie die Staaten die Herausforderungen bewältigen können, während die Beschränkungen schrittweise aufgehoben werden.
Das ist auch kein Zufall.
Die Berichte der Mitgliedsorganisationen weisen auf den systematischen Ausschluss von zivilgesellschaftlichen Organisationen von der Gesetzgebung und der Politik hin. In den Niederlanden und der Slowakei wurden Vertreter/innen der Zivilgesellschaft in vielen Bereichen von den Diskussionen ausgeschlossen, während in Irland Vertreter/innen von Lobbyplattformen für den Umweltschutz ausgeschlossen wurden. In Kroatien beanstandeten zivilgesellschaftliche Organisationen, dass sie von den Diskussionen über den neuen nationalen Konjunktur- und Resilienzplan ausgeschlossen wurden oder, dass wie im Fall der Slowakei, ihre Rolle bis zur Bedeutungslosigkeit reduziert wurde.
Alles in allem bot das Jahr 2021 den Organisationen der Zivilgesellschaft wenig Anlass zu Optimismus. Während man von den üblichen Verdächtigen restriktive Maßnahmen erwarten konnte, sahen selbst Länder mit traditionell starken Demokratien ihren zivilgesellschaftlichen Raum schrumpfen.
Angesichts der zentralen Rolle, die Aktivistinnen und Aktivisten bei der Wahrung der Werte der EU und der Umsetzung der Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte spielen, liegt es im Interesse der Europäischen Union, ihre Macht zu nutzen, um zivilgesellschaftliche Organisationen zu schützen. Basierend auf den Erkenntnissen unserer Mitgliedsorganisationen enthält der Bericht eine Liste von Empfehlungen, die die Regierungen und die EU befolgen sollten. Der Weg zur Stärkung der Zivilgesellschaft ist bekannt, aber es bleibt abzuwarten, ob die Bereitschaft besteht, ihn auch zu gehen.