Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat am 20. April geurteilt, dass die Verurteilung von Alain Ottan wegen öffentlicher Äußerungen, die die ethnische Herkunft von Mitgliedern eines Geschworenengremiums kritisierten, seine Meinungsfreiheit verletzt. In seinem Urteil in der Rechtssache Ottan v. France (Klage Nr. 41841/12) stellte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte einstimmig fest, dass eine Verletzung von Artikel 10 (Meinungsfreiheit) der Europäischen Menschenrechtskonvention vorliegt.
Dem EGMR-Fall ging im Jahr 2009 der Freispruch eines Gendarmes voraus, der im Jahr 2003 einen jungen Mann ausländischer Herkunft bei einer Verfolgungsjagd getötet hatte. Wenige Minuten nach dem Urteil erklärte der Kläger, ein Anwalt, der den Vater des Opfers vertreten hatte, dass der Freispruch angesichts der ethnischen Zusammensetzung der Jury, die ausschließlich aus "Weißen" bestand, keine Überraschung sei. Das Berufungsgericht von Montpellier verhängte eine Disziplinarstrafe, nämlich eine Verwarnung, mit der festgestellt wurde, dass der Anwalt seinen berufsethischen Pflichten der Sensibilität und Mäßigung nicht nachgekommen war.
Unverhältnismäßige Strafe
Der EGMR stellte fest, dass die angefochtenen Bemerkungen im Rahmen einer Debatte über das Funktionieren des Strafrechtssystems im Zusammenhang mit der Berichterstattung in den Medien über einen Fall gemacht wurden. In ihrem Zusammenhang betrachtet, handelte es sich nicht um einen beleidigenden oder rassistisch motivierten Vorwurf, sondern um die Unparteilichkeit und Repräsentativität der großen Gerichtsjury, demnach hatte der Anwalt eine allgemeine Aussage über die Organisation der Strafgerichte gemacht. Diese Bemerkungen waren dennoch ein Werturteil mit ausreichender sachlicher Grundlage und gehörten zur Verteidigung des Mandanten des Anwalts.
Schließlich urteilte das Gericht, das Urteil sei, auch wenn eine Verwarnung die leichteste Strafe darstelle, unverhältnismäßig in einer demokratischen Gesellschaft nicht notwendig.