Zwar hat sich kein EU-Land für eine Impfpflicht entschieden, doch Politiker in ganz Europa haben die Idee geäußert, dass sich die Menschen, wenn sie sich impfen lassen, frei bewegen können und wieder ungehindert Dienstleistungen in Anspruch nehmen dürfen, die momentan zur Eindämmung des Coronavirus eingeschränkt sind. Wenn jedoch die Impfung dazu benutzt wird, EU-Rechte in ein Privileg für die Elite zu verwandeln, birgt das die Gefahr, die Spaltung unserer Gesellschaft weiter voranzutreiben und den Erfolg der Impfbemühungen zu gefährden.
Geschwister sind nicht immer einer Meinung, genauso wenig wie die Eltern
Die Idee, dass Menschen, die ein Impfzertifikat besitzen, bei Reisen innerhalb der EU auf keine Einschränkungen mehr stoßen sollen, wurde vom griechischen Ministerpräsidenten ausdrücklich zur Debatte gestellt. Ein EU-weit einheitliches digitales Impfzertifikat soll, so schlägt er vor, der Freifahrtschein werden, mit dem sich die Menschen wieder ungehindert von Land zu Land bewegen können. Das würde die Menschen aus der Isolation holen, die Freizeitgestaltung und die damit verbundenen wirtschaftlichen Aktivitäten wiederbeleben.
Der Rest der EU-Familie ist geteilter Meinung
Einige, wie Malta und Portugal, deren Wirtschaft ähnlich auf den Tourismus ausgerichtet ist wie die griechische, scheinen die Idee zu mögen. Polen, ist sogar bereits dabei, die Idee im Alleingang in die Tat umzusetzen. Aber andere, wie Frankreich und Rumänien, haben ernsthafte Bedenken dagegen geäußert.
Die EU-Kommission ihrerseits, die sich mit Kritik an ihren Impfstoffdeals konfrontiert sieht und damit beschäftigt ist, die EU-Regierungen dazu zu bringen, die schleppenden Impfkampagnen wieder in Schwung zu bringen, versucht, sich zurückzuhalten. Anfang dieser Woche richtete sie eine Reihe von eher zaghaften Empfehlungen an die EU-Regierungen, in denen sie diese dazu aufforderte, sich bei der Ausstellung von Impfzeugnissen und den damit verbundenen Auswirkungen zu koordinieren und aufeinander abzustimmen. Aber einige Kommissionsmitglieder scheinen bereit zu sein, weiter zu gehen und zeigen sich der Idee gegenüber aufgeschlossen, dass Impfzertifikate über die Koordination von Gesundheitsschutzmaßnahmen hinausgehen könnten. Angesichts der Tatsache, dass Länder wie Belgien damit drohen, ihre Grenzen wieder zu schließen, um neue, offenbar noch ansteckendere Virusmutationen fernzuhalten, ist die Angst vor einer neuen Welle einseitiger und unkoordinierter Grenzschließungen, die den bereits geschwächten Schengen-Raum treffen, konkret spürbar.
Ein Gipfeltreffen der EU-Staats- und Regierungschefs, das sich gestern mit dem Thema befasste, schien bisher nicht zu einer gemeinsamen Position in dieser Frage zu führen. Verständlicherweise, denn die Idee wirft eine Reihe von Problemen auf.
Leichter gesagt als getan
Die Idee, die uneingeschränkte Freizügigkeit innerhalb der EU an den Besitz eines Impfnachweises zu knüpfen, bringt eine Reihe von wichtigen praktischen Problemen mit sich. Hier sind nur drei von ihnen.
Erstens setzt die Idee voraus, dass in allen EU-Ländern jeder die Möglichkeit hat, sich innerhalb eines relativ kurzen Zeitrahmens impfen zu lassen. Das ist nicht selbstverständlich, wenn man bedenkt, dass es Probleme mit der Auslieferung der Impfdosen gibt, dass bestimmte gefährdete Personengruppen Vorrang vor anderen haben und dass die Impfkampagnen in einigen EU-Ländern nur schleppend vorankommen.
Zweitens können sich Probleme aus der Tatsache ergeben, dass verschiedene Impfstoffe in verschiedenen EU-Ländern und sogar innerhalb eines Landes injiziert werden, vermutlich ohne dass die Menschen die Möglichkeit haben, darauf Einfluss zu nehmen. Das kann auch Impfstoffe betreffen, die außerhalb der EU-Abkommen und -Strategie liegen: Ungarn beispielsweise steht angeblich kurz vor dem Abschluss eines Deals zum Kauf chinesischer Impfstoffe, die nicht Gegenstand eines formalen Zulassungsverfahrens durch die Europäische Medialagentur (EMA) waren. Sollte ein Impfzertifikat auch dann ausgestellt werden, wenn der injizierte Impfstoff nicht zu den von der EMA zugelassenen gehört?
Drittens scheint es noch keine eindeutigen Daten darüber zu geben, inwieweit Impfkampagnen wirksam sind, um die Übertragung der Krankheit zu stoppen oder zu reduzieren. Zum jetzigen Zeitpunkt kann, so warnt die WHO, der Einsatz von Impfpässen für ungehindertes Reisen tatsächlich die öffentliche Gesundheit gefährden, weil das ein trügerisches Gefühl von Sicherheit schafft.
Es geht um die Rechte der Menschen
Mehr als nur ein bürokratisches Problem.
Wir haben bereits die Ansicht geäußert, dass die Idee, die Impfung an die freie Ausübung bestimmter Rechte zu koppeln, zur herausbildung einer Zweiklassengesellschaft führen könnte. Das Reisen von einer Impfung abhängig zu machen, würde bedeuten, dass ein Teil der Gesellschaft dieses Recht wieder frei ausüben kann, während andere ausgegrenzt bleiben und aus dem gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen werden. Es ist wahrscheinlich, dass sich für einige Gruppen der Gesellschaft aufgrund bestehender Ungleichheiten, mangelndem Problembewusstsein, oder durch Korruption bzw. politische Günstlingswirtschaft ein verzögerter Zugang zur Impfung ergeben wird. Unter diesen Umständen wird der Impfpass die Kluft zwischen denjenigen, die bereits eine bevorzugte Stellung in der Gesellschaft genießen und denjenigen, die sich am Rande der Gesellschaft befinden, noch verschärfen. Die Umwandlung von EU-Rechten wie der Freizügigkeit in ein Privileg für die Elite würde gegen die EU-Regeln zur Nichtdiskriminierung verstoßen.
Gerade das Recht auf Freizügigkeit, das eine solche Maßnahme eigentlich zu schützen versucht, würde wahrscheinlich in Mitleidenschaft gezogen. Zum einen entspricht es dem Geist der EU-Regeln zur Freizügigkeit, dass die Ausübung dieses Rechts aus objektiven Gründen und auf Einzelfallbasis eingeschränkt werden kann und eben nicht auf der Grundlage des Besitzes einer Bescheinigung. Zum anderen wird die Erlaubnis für geimpfte Personen, sich innerhalb der EU frei zu bewegen, immer noch nicht die unterschiedliche Behandlung von Land zu Land beseitigen, da jede einzelne Regierung immer noch eigenständig über die in ihrem Land geltenden Beschränkungen entscheiden wird.
Die Einführung digitaler Impfzertifikate wirft auch in Bezug auf den Datenschutz Bedenken auf. Die damit verbundene Verarbeitung und Weitergabe von sensiblen persönlichen Gesundheitsdaten innerhalb und zwischen den EU-Ländern erfordert sehr strenge Sicherheitsvorkehrungen bei der Entwicklung dieser Technologien, um Datenschutzverletzungen und Datenmissbrauch gemäß den EU-Vorschriften zu verhindern. Das ist ein Problem, auf das der EU-Datenschutzbeauftragte bereits hingewiesen hat und das er sehr skeptisch bewertet.
Die EU kann den Regierungen helfen, das Richtige zu tun
Ein allgemeiner und gerechter Zugang zu sicheren und wirksamen COVID-19-Impfstoffen ist der Schlüssel, um die Gesundheit der Menschen zu schützen, um Leben zu retten, um die Beschäftigten im Gesundheitswesen zu abzusichern und um das öffentliche Gesundheitssystem zu bewahren - damit die Menschen allmählich zu einem normalen Leben zurückkehren und letztlich auch die Wirtschaft wieder florieren kann. Wenn wir aber die Impfung zur Voraussetzung für die Ausübung von EU-Rechten machen, kann das einen doppelten Backlash-Effekt haben: Es kann gleichzeitig den Euroskeptizismus weiter anheizen und die Abneigung von Impfskeptikern gegen Impfungen noch verstärken.
Es liegt im Interesse der EU, dafür zu sorgen, dass die Regierungen jetzt das Richtige tun. Hier sind drei Ideen wie:
1. Es muss ein EU-koordinierter Ansatz für Reiseregelungen vorgeschlagen werden, einschließlich Tests und anderer Vorsichtsmaßnahmen für Reisende.
2. Es braucht verstärkte Anstrengungen, um den gleichberechtigten Zugang zu Impfungen für alle zu fördern und gleichzeitig das Bewusstsein für Impfmöglichkeiten zu schärfen, insbesondere bei marginalisierten und gefährdeten Gruppen
3. Es sind weitere Investitionen in die Erforschung des Ausmaßes und der Dauer der Immunität und der durch Impfstoffe bewirkten Verringerung der Übertragungsraten erforderlich.
Zu diesem Thema auf liberties:
Die EU muss verhindern, dass die Verteilung des Impfstoffs eine Zweiklassengesellschaft fördert