Am 17. März 2021 will die Europäische Kommission einen Legislativvorschlag für ein digitales Zertifikat vorlegen, den sogenannten "Digital Green Pass". Das geplante europäische Zertifikat soll Folgendes leisten:
- nachweisen, dass eine Person gegen COVID-19 geimpft wurde, und/oder
- Ergebnisse aktueller Tests für Personen, die nicht geimpft wurden belegen, und/oder
- Auskunft über eine überstandene Erkrankung mit COVID-19 geben.
Laut einer Ankündigung von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen auf Twitter soll der Digital Green Pass auch die Aspekte Datenschutz, Sicherheit und Privatsphäre respektieren.
Der Legislativvorschlags der Kommission hat das Ziel, zu gewährleisten, dass der Binnenmarkt funktioniert, indem es Europäerinnen und Europäern schrittweise ermöglicht wird, sich sicher innerhalb und außerhalb der Europäischen Union zu bewegen. Ob und inwieweit weitere Einsatzfelder für digitale COVID-19-Immunitäts-/Testergebnis-/Impfbescheinigungen darüber hinaus noch erlaubt oder vorgeschrieben werden sollen, müssen die Mitgliedsstaaten entscheiden.
Ein Impfpass darf nicht zur Entstehung einer Zwei-Klassen-Gesellschaft führen.
"Die EU sollte die einzelnen Regierungen dabei unterstützen, allen Bürgern ihre Freiheiten zurückzugeben. Das lässt sich am besten erreichen, indem der Impfpass so gerecht und so schnell wie möglich eingeführt wird. Wenn aber die große Mehrheit der Menschen in der EU noch nicht einmal geimpft ist, ist es einfach zu früh, Ressourcen in die knifflige Aufgabe zu stecken, einen Pass zu entwickeln, der in 27 Ländern funktioniert und gleichzeitig die Gesundheitsdaten der Menschen schützt. Die Regierungen und die EU sollten sich stattdessen darauf konzentrieren, so viele Menschen wie möglich davon zu überzeugen, sich impfen zu lassen und eine faire Implementierung der Impfung zu beschleunigen." Israel Butler, Head of Advocacy bei der Civil Liberties Union for Europe (Liberties)
Universeller Zugang zu Impfungen ist ein Muss
Ein universeller und gerechter Zugang zu einem sicheren und wirksamen COVID-19-Impfstoff ist der Schlüssel, um die Gesundheit der Menschen zu schützen und Leben zu retten, um das Gesundheitspersonal zu schützen und das öffentliche Gesundheitssystem zu sichern, um die Rückkehr der Kinder in die Schulen zu gewährleisten und um es der Wirtschaft zu ermöglichen, sich zu erholen und die Familien zu ernähren.
In der gesamten EU haben die COVID-19-Impfkampagnen begonnen. Diejenigen, die in dem Impfstoff die Lösung sehen, die uns aus der Pandemie führen wird, kritisieren das langsame Impftempo in einigen Ländern. Andere äußern eine tiefe Skepsis gegenüber dem Impfstoff, was zum Teil auf die schnelle Verbreitung von Desinformationen und Fake News zurückzuführen ist.
Impfkampagnen und Vorschriften zu Impfstoffen und Zertifizierungen liegen in der ausschließlichen Kompetenz und Verantwortung der nationalen Regierungen und können nicht von der Europäischen Union vorgeschrieben werden. Kein Mitgliedsstaat hat sich für eine Impfpflicht entschieden und es scheint sehr unwahrscheinlich, dass in den kommenden Monaten so etwas von einem von ihnen versucht wird. Auch wenn Impfbescheinigungen in die Zuständigkeit der Mitgliedsstaaten fallen, hat die Europäische Union ein klares Interesse daran, einen koordinierten Ansatz zu entwickeln.
In den Augen der Öffentlichkeit und mehrerer europäischer Regierungen bietet der Digital Green Pass eine großartige Möglichkeit, zur "Normalität" zurückzukehren und die durch COVID-19-bedingte Einschränkungen verwüsteten Volkswirtschaften wieder zu beleben.
Es ist nicht zu leugnen, dass die Einführung digitaler COVID-19-Immunitäts-/Testergebnis-/Impfbescheinigungen ihre Reize hat, dennoch rufen wir sowohl die Europäische Kommission als auch die Mitgliedsstaaten dazu auf, sich der Risiken und Gefahren bewusst zu sein, die solche digitalen Pässe mit sich bringen.
Wir glauben, dass die derzeitige Vision eines Gesetzesvorschlags am 17. März 2021 auf zu vielen Ebenen gravierende Fehler aufweist. Die Kommission und die Mitgliedsstaaten sollten keinen Gesetzesvorschlag für solche oder ähnliche digitale Ausweise vorlegen, ehe nicht sichergestellt ist, dass begründete ethische und wissenschaftliche Bedenken ausreichend berücksichtigt wurden.
Die Europäische Kommission bereitet derzeit eine neue gesetzliche Regelung vor, die nur auf Vermutungen basiert. Erstens die Annahme, dass die Impfung ausreichend wirksam sei, um Übertragungen signifikant zu reduzieren. Zweitens, dass das Risiko einer Übertragung durch diejenigen, die sich bereits von COVID-19 erholt haben, ausreichend gering sei. Diese Annahmen sind aber noch nicht bewiesen.
Laut WHO "gibt es noch kritische Unbekannte bezüglich der Wirksamkeit der Impfung bei der Reduzierung der Übertragung (...). Der Nachweis einer Impfung sollte internationale Reisende nicht davon befreien, andere Maßnahmen zur Verringerung des Reiserisikos einzuhalten." Darüber hinaus sind "das Ausmaß und die Dauer der Antikörper-vermittelten Immunität zum Schutz vor einer Reinfektion mit SARS-CoV-2 wissenschaftlich noch nicht geklärt."
Als Menschenrechtsorganisation sind wir nicht qualifiziert, um wissenschaftliche Beweise zu liefern, die für oder gegen die Wirksamkeit der Verwendung von digitalen Immunitäts- und/oder Impfausweisen sprechen. Dennoch erinnern wir die europäischen Regierungen und die Europäische Kommission daran, dass Maßnahmen, die in Grundrechte eingreifen können, auf Nachweisen basieren müssen, dass sie notwendig und effektiv sind. Im Gegensatz dazu erscheint die Einführung des Digitalen Impfpasses ohne ausreichende Beweise als eine rein plakative, ja sogar kontraproduktive Maßnahme, die unsere Gesundheit und unser Leben zugunsten eines politischen Gewinns aufs Spiel setzt.
Wir bestehen darauf, dass die Kommission und die europäischen Regierungen zunächst die wissenschaftliche Gemeinschaft dabei unterstützen sollten, zu einem fundierten Verständnis darüber zu gelangen, wie Immunität / SARS-CoV-2-Übertragung sowohl in den Teilen der Bevölkerung, die sich bereits von COVID-19 erholt haben, als auch in denen, die geimpft wurden, funktioniert, anstatt sich auf die Entwicklung eines angemessenen rechtlichen Umfelds für mobile Anwendungen (Apps) zu konzentrieren, durch die Europäer ihren Impf-/Genesungsstatus zertifizieren könnten.
Sollten die wissenschaftlichen Erkenntnisse darauf hindeuten, dass das Übertragungsrisiko bei den bereits Geimpften und/oder den bereits von COVID-19 Genesenen sehr gering ist, müssten sich die Kommission und die Mitgliedstaaten noch mit ethischen und rechtlichen Bedenken im Zusammenhang mit dem Einsatz des geplanten Digital Green Pass befassen.
Bestimmte Verwendungszwecke des Digitalen Impfpasses können zu Ungerechtigkeiten (und damit zu Misstrauen gegenüber den europäischen Institutionen) führen, bestehende Ungleichheiten weiter verschärfen und eine Zweiklassengesellschaft schaffen, in der einige Menschen ein umfangreiches Paket an Freiheiten und Rechten genießen, während andere davon ausgeschlossen bleiben. Darüber hinaus kann die Einführung des Digital Green Pass zu einem ungerechtfertigten Eindringen in unser Privatleben führen und unsere persönlichen Daten einem unangemessenen Risiko des Missbrauchs aussetzen.
Bewegungsfreiheit: Ungerechtigkeit und Misstrauen
Ein digitaler Impfpass, der ausschließlich an die Bewegungsfreiheit innerhalb (und außerhalb) der Europäischen Union gekoppelt ist, könnte zum Ausschluss von Menschen führen, die sich aus medizinischen Gründen nicht impfen lassen können, wie z.B. Schwangere oder Menschen mit bestimmten Vorerkrankungen. Offenbar will die Kommission deshalb, dass der Digital Green Pass nicht nur Informationen zum Impfstatus, sondern auch zu aktuellen Testergebnissen und/oder zur COVID-19-Historie des Nutzers enthält. Wir unterstützen die Absicht, den Ausschluss bestimmter Risikogruppen in der Gesellschaft zu vermeiden. Ohne die Sicherstellung eines kostengünstigen und einfachen Zugangs zu Tests werden jedoch diejenigen, die nicht geimpft sind, weiterhin mit unangemessenen Hindernissen konfrontiert sein.
Mit Stand von Anfang März 2021 ist die Impfung in keinem Mitgliedstaat obligatorisch, und es ist auch nicht zu erwarten, dass dies in absehbarer Zeit der Fall sein wird. Außerdem ist der Impfstoff nicht allgemein verfügbar. Es ist nicht zu erwarten, dass alle EU-Bürger vor dem letzten Quartal des Jahres Zugang zur Impfung haben werden. Auch wenn die Einführung des Impfstoffs in mehreren Mitgliedstaaten transparent und fair (wenn auch langsam) verläuft, trifft dies nicht unbedingt auf alle Länder zu. In einer Reihe von Ländern hat die Mittelschicht einen besseren Zugang zur Impfung und Menschen mit sozialem und/oder finanziellem Kapital überspringen die Warteschlangen.
Denjenigen, die eine Impfung erhalten haben, zusätzliche Rechte einzuräumen, während diese Rechte denjenigen verweigert werden, die noch nicht geimpft sind, ist ungerecht und sollte vermieden werden, um so mehr, wenn die Verteilung der Impftermine ungerecht war. Wenn der Nachweis einer Impfung den Inhaber zu relativ einfachen Reisen zwischen den Mitgliedstaaten berechtigt, sollte der Nachweis eines kürzlich durchgeführten negativen Tests ebenso gültig sein. Außerdem sollten die Regierungen solche Tests mit schneller Ergebnislieferung so weit wie möglich zugänglich machen.
Bis der Zugang zu Impfungen allgemein möglich ist, sollten Regierungen, die Inhabern von Impfbescheinigungen Freizügigkeit gewähren, unserer Meinung nach auch für ungeimpfte Personen ausreichende und kostengünstige Möglichkeiten zur schnellen Beschaffung von Testergebnissen bereitstellen und ein kürzlich erzieltes negatives Testergebnis als gleichwertig mit dem Nachweis einer Impfung behandeln.
Lade dir hier unser Positionspapier herunter.
Zuvor auf Liberties:
Impfpässe stellen ein Risiko für unsere Grundrechte dar
Die EU muss verhindern, dass die Verteilung des Impfstoffs eine Zweiklassengesellschaft fördert