Um zu gewährleisten, dass die Justiz zum Wohle der Bürgerinnen und Bürger arbeitet, ist es von zentraler Bedeutung, dass das Justizsystem absolut unabhängig und unparteiisch bleibt. Wenn die politischen Parteien, die gerade an der Macht sind, versuchen, die Auswahl von Richterinnen und Richtern für politische Zwecke zu beeinflussen, insbesondere auf höchster Ebene, gefährden sie den wirksamen Schutz der Rechte der Bürgerinnen und Bürger. Im Rechtsstaatlichkeitsbericht 2024 von Liberties müssen wir aber konstatieren, dass in vielen Mitgliedstaaten die Auswahl der höchsten Beamten des Justizsystems weiterhin stark politisiert bleibt.
Ein sehr deutliches Zeichen für den Rückschritt in der Rechtsstaatlichkeit ist der Versuch der Regierungsparteien, die Zusammensetzung der Gerichte in ihrem Land zu manipulieren, einschließlich des Verfassungsgerichts und der obersten Gerichte. So hat es auch in Ungarn angefangen.
Die Justiz im Dienste der Regierung: das warnende Beispiel Ungarns
Nach ihrem Amtsantritt im Jahr 2010 zielte eine der allerersten Maßnahmen der Orbán-Regierung darauf ab, die Unabhängigkeit und Autonomie der Justizorgane zu untergraben, unter anderem, indem sie Einfluss auf deren Zusammensetzung nahm. Durch Änderungen im Ernennungsverfahren der Verfassungsrichter*innen und indem die Anzahl der Sitze am Gericht erhöht wurde, gelang es den Regierungsparteien, dafür zu sorgen, dass von ihnen gewählte Mitglieder spätestens seit dem Frühjahr 2023 die Mehrheit am Verfassungsgericht bilden. Die Fidesz-Regierung hat außerdem alles daran gesetzt, die Justiz mit politisch loyalen Richtern aufzufüllen, indem sie das Mandat des obersten Richters Baka vorzeitig beendete und Hunderte von Richtern, darunter auch Richter des Obersten Gerichtshofs, in den Vorruhestand zwang, das System der Justizverwaltung umgestaltet und dem Präsidenten des neuen nationalen Justizamtes einen großen Ermessensspielraum bei der Auswahl und Beförderung von ordentlichen Richtern und der Ernennung von Gerichtsleitern eingeräumt hat, indem sie den Mitgliedern des politisch besetzten Verfassungsgerichts erlaubt hat, ihre Karriere als ordentliche Richter fortzusetzen, und indem sie den derzeitigen obersten Richter, Herrn Varga, in einem stark politisierten Verfahren gegen den Widerspruch des nationalen Justizrats durchsetzte.
Die eingeschränkte Unabhängigkeit der Justiz wirkte sich nicht nur negativ auf die gerichtliche Kontrolle der politischen Instanzen aus, sondern auch auf den Schutz der Rechte der Bürgerinnen und Bürger. Im Jahr 2021 rief die ungarische Regierung beispielsweise zu einem Referendum auf, das sich gegen die LGBTQ+-Gemeinschaft richtete. Obwohl die Fragen des Referendums offenkundig rechtswidrig waren und reinen Propagandazwecken dienten, konnte die Regierung dank der gemeinsamen Bemühungen des Obersten Gerichtshofs und des Verfassungsgerichts ihren Willen auf Kosten der Rechte sexueller Minderheiten durchsetzen.
Anhaltende Politisierung der Justizauswahlverfahren in den Mitgliedsstaaten
Das sogenannte Court Packing, also die politisch motivierte Ernennung von Richterinnen und Richtern, ist in den letzten Jahren in Ungarn und Polen zu einem so ernsten Problem geworden, dass sich die EU-Gremien gezwungen sahen, die schwersten Geschütze ihres Rechtsstaatlichkeitsarsenals aufzufahren, darunter Vertragsverletzungsverfahren und das Einfrieren von EU-Geldern, um die systemische Verletzung der richterlichen Unabhängigkeit zu beheben oder zumindest abzumildern. Allerdings ist die Politisierung der richterlichen Auswahlverfahren, insbesondere bei den obersten Gerichten, in vielen Mitgliedstaaten seit langem einer der häufigsten Mängel des Justizsystems. In den vergangenen Jahren hat die Kommission vor allem in Österreich, Bulgarien, Zypern, Griechenland, Irland, Lettland, Malta, der Slowakei und Spanien besorgniserregende Probleme festgestellt.
Liberties' Rule of Law Report 2024 zeigt, dass es in mehreren Mitgliedstaaten nach wie vor Probleme bei der Auswahl von Beamten gibt, die höchste Positionen in der Justiz besetzen. In Frankreich hat der jüngste Prozess gegen den amtierenden Justizminister erneut Zweifel an der Unparteilichkeit und Unabhängigkeit des Gerichtshofs der Republik aufkommen lassen. Wie soll er unabhängig über Strafsachen gegen Regierungsmitglieder entscheiden, wenn er größtenteils aus Mitgliedern des Parlaments besteht? In Griechenland werden die höchsten Beamten des Justizsystems, einschließlich des Präsidenten und des Vizepräsidenten des Staatsrats, des Obersten Gerichtshofs und des Rechnungshofs, immer noch ausschließlich von den politischen Instanzen ausgewählt. In Deutschland werden Entscheidungen über die Beförderung von Richtern - insbesondere die Auswahl von Gerichtspräsidenten und Richtern an den Bundesgerichten - immer noch von Mitgliedern der Landes- oder Bundesregierung in Zusammenarbeit mit parlamentarischen Gremien getroffen, nicht von der Justiz selbst. In Bulgarien blieben zwei Sitze am Verfassungsgericht aufgrund von Machtkämpfen zwischen den Regierungsparteien unbesetzt.
Einige Mitgliedstaaten haben es auch versäumt, die Autonomie der Justizräte zu garantieren, die oft eine Schlüsselrolle bei der Verwaltung des Justizsystems und der Auswahl der Richter/innen spielen. In Bulgarien fordern Experten die Auswahl neuer Mitglieder des obersten Justizrats und des obersten Staatsanwaltsrats in einem transparenten Verfahren ohne Verfahrensfehler. In der Slowakei wurden die nicht richterlichen Mitglieder des Justizrats von der neuen Regierung unmittelbar nach den Wahlen ohne Begründung ausgetauscht, was erneut Zweifel am Einfluss der Politik auf die Besetzung aufkommen ließ.
Ein Hoffnungsschimmer: Positive Anzeichen in den Mitgliedsstaaten
Nichtsdestotrotz ist es eine positive Entwicklung, dass einige Mitgliedstaaten Schritte zur Entpolitisierung des Auswahlverfahrens für Richterinnen und Richter unternommen haben. Dazu gehört auch die Besetzung ihrer jeweiligen Justizräte. In Kroatien hat sich die Zusammensetzung des Verfassungsgerichts stark verändert, allerdings in einem relativ transparenten Verfahren: Der Präsident der Republik schlug sieben Kandidaten für die vakanten Positionen vor, basierend auf der Empfehlung eines beratenden Gremiums, das sich aus verschiedenen Institutionen zusammensetzt, und fünf der Nominierten wurden vom Senat bestätigt. In Schweden wurden gesetzgeberische Maßnahmen ergriffen, um den Einfluss der Regierung auf die Zusammensetzung des für die Ernennung von Richtern zuständigen Justizrats zu beseitigen, obwohl die Änderungen nur verzögert in Kraft getreten sind. Diese Beispiele zeigen, dass es mit politischem Willen möglich ist, ein Gleichgewicht zwischen dem Gewährleisten der demokratischen Legitimität der Justiz und dem Verzicht auf politische Einflussnahme auf die Auswahl der Richterinnen und Richter zu finden.
Resources
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