Sexueller Kindesmissbrauch (CSA - Child sexual abuse) ist ein schreckliches Verbrechen, das Leben und Familien zerstören kann und leider ist es durch das Internet viel einfacher geworden, illegales Material zu verbreiten, zu speichern und darauf zuzugreifen. Der Kampf gegen diese dunkle und beschämende Seite der Gesellschaft ist unbestreitbar wichtig und notwendig. Deshalb hat die Europäische Kommission unter ihrer Kommissarin für Inneres, Ylva Johannson, am 11. Mai 2022 eine neue EU-Verordnung vorgeschlagen, die unter anderem vorsieht, dass Plattformanbieter Grooming-Ansätze und illegale Inhalte melden, entfernen und/oder blockieren.
Klingt doch gut, oder? Es lohnt sich, genauer hinzuschauen. Wir sind der Meinung, dass der Vorschlag zwar gut gemeint, aber grundlegend fehlgeleitet ist. Das Abschlagen dieses Kopfes der Hydra würde viele weitere wachsen lassen.
In einem neuen Positionspapier (policy brief) von Liberties erklären wir, warum die Durchsetzung dieses Vorschlags mit den folgenden Grundrechten der Europäischen Union kollidieren würde:
- Achtung des Privat- und Familienlebens
- Schutz personenbezogener Daten
- Recht auf freie Meinungsäußerung und Informationsfreiheit
- Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit
Warum Verschlüsselung der Schlüssel zu deinen Grundrechten ist
Eines der grundlegenden Probleme, das wir in dem Vorschlag sehen, besteht darin, dass er die Ende-zu-Ende-Verschlüsselung praktisch bedeutungslos machen würde.
Wieso? Um das zu beantworten, müssen wir kurz erklären, was Verschlüsselung ist und inwiefern deine oben genannten Rechte von ihr abhängen.
Erstens: Was ist end-to-end encryption? Wenn du Ende-zu-Ende-verschlüsselte Dienste nutzt, können nur du und der Empfänger den Inhalt eurer Kommunikation sehen, egal, ob es sich dabei um lustige Memes oder i, Dokumente handelt, die einen Korruptionsskandal aufdecken. Das ist einem sogenannten privaten Schlüssel zu verdanken, den niemand außer dem Eigentümer kennt und der den Satz "Ich komme zu spät, bitte schiebe die Pizza in den Ofen" zum Beispiel so aussehen lässt: G6Sx8%HE)N3aBF&NFWsE "eFWE=fWEp.
Client-side-scanning, die Technologie, die vermutlich eingeführt würde, sollte der Vorschlag in dieser (oder einer ähnlichen) Version angenommen werden, bedeutet aber, dass der Inhalt deiner Kommunikation vor der Verschlüsselung und dem Versand gescannt wird. Das ist zwar nicht so schlimm wie ein generelles Verbot der Verschlüsselung, aber es öffnet Hackern und Regierungen Tür und Tor, um dich auszuspionieren.
Das wäre schon in gut funktionierenden Demokratien problematisch. Leider nimmt aber in der EU, wie dieser Bericht von Liberties zeigt, der Autoritarismus zu und die Rechtsstaatlichkeit ab.
In Zeiten wie diesen, in denen man einigen Regierungen nicht mehr uneingeschränkt vertrauen kann, brauchen schutzbedürftige Gemeinschaften, Whistleblower oder Opfer von (sexuellem oder anderem) Missbrauch sichere Kommunikationskanäle. Wie können Journalistinnen, Anwälte und Menschenrechtsorganisationen ihre Arbeit machen, wenn sie befürchten müssen, dass Regierungen unerwünschte Gedanken herausfiltern oder sogar kriminalisieren können? Dieser Vorschlag schadet allen, auch Kindern.
Die Vergangenheit hat uns gezeigt, dass selbst demokratische Länder nicht davor zurückschrecken, ihre Bürgerinnen und Freunde auszuspionieren. Im Jahr 2014 hat Edward Snowden bewiesen, dass die NSA heimlich die Daten von Millionen von Bürgerinnen und Bürgern auf der ganzen Welt sammelt, darunter auch Amtsträgerinnen wie Deutschlands Ex-Kanzlerin Angela Merkel. Aus unserer Sicht ist es besser, möglichst niemandem das Schnüffeln leicht zu machen, auch nicht den Regierungen.
Die Zivilgesellschaft fordert andere Strategien
In Anbetracht der genannten Risiken ist es nicht verwunderlich, dass die Zivilgesellschaft auf den Vorschlag der Europäischen Kommission mit einer heftigen Kritik reagierte. 114 Organisationen, darunter die Civil Liberties Union for Europe, haben einen offenen Brief unterzeichnet, in dem sie Lösungen fordern, die die Grundrechte respektieren. Sogar einige Kinderschutzorganisationen, wie der Deutsche Kinderverein und der Kinderschutzbund, sind gegen den Vorschlag. Sie teilen die Überzeugung, dass es bessere Strategien zur Bekämpfung von Sexuellem Kindesmissbrauch gibt.
Ein Argument, das unter Digital- und Menschenrechtsorganisationen weithin geteilt wird, ist, dass die Strafverfolgungsbehörden schon jetzt mit der Zahl der aufgedeckten Fälle überfordert sind. Diese Belastung wird noch dadurch verstärkt, dass die Durchsuchung des gesamten verfügbaren Materials zwangsläufig zu vielen falsch positiven Ergebnissen führen wird, wie z. B. Urlaubsfotos vom Strand. Es wird dann die Aufgabe der nationalen Behörden sein, von Fall zu Fall zu entscheiden, ob ein Inhalt illegal ist oder nicht. Außerdem wäre die Verordnung in ihrer jetzigen Form eine verpasste Gelegenheit, da verschlüsselte Kommunikation nur einen kleinen Teil der Verbreitung dieses lebensvernichtenden Materials ausmacht. Und schließlich würde dieser Vorschlag zwar schwerwiegende Folgen für unsere Grundrechte haben, aber Kriminelle werden wahrscheinlich andere Wege finden, um an Kinderpornografie zu gelangen, z. B. durch die Nutzung eigener Plattformen.
In unserem Positionspapier haben wir argumentiert, dass der Vorschlag eine Reihe von in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankerten Grundrechten untergräbt. Wir haben auch bemängelt, dass die vorgeschlagene Verordnung so formuliert ist, dass sie zu viel Spielraum für Interpretationen lässt. Angesichts der Tatsache, dass in einem Europa, in dem der Autoritarismus sowieso schon auf dem Vormarsch ist, die Grundrechte auf dem Spiel stehen, muss dies vermieden werden.
Empfehlungen
Aus Sicht von Liberties ist es zweifellos die Pflicht der EU-Regierungen, Kinder vor Missbrauch zu schützen, wir sehen aber in dem Vorschlag der Kommission nicht den richtigen Weg, um dieses Ziel zu erreichen. Wir glauben, dass der aktuelle Entwurf grundlegend verfehlt ist und ein völlig neuer Vorschlag ausgearbeitet werden sollte. Dieser neue Vorschlag muss die folgenden politischen Empfehlungen berücksichtigen:
- Maßnahmen, die die Möglichkeit einer wahllosen Online-Massenüberwachung eröffnen, sind zu vermeiden
- Maßnahmen, die die Sicherheit und Vertraulichkeit der Ende-zu-Ende-Verschlüsselung untergraben, müssen vermieden werden.
- Die zentralen Konzepte der Verordnung müssen besser definiert werden, um das Risiko eines möglichen Missbrauchs durch politisch vereinnahmte nationale Behörden deutlich zu reduzieren.
In unserem Positionspapier (policy paper) zu diesem Thema findet sich eine ausführliche Analyse der rechtlichen Aspekte, die der Vorschlag der Kommission berührt.