Die Zahl der Migranten, die es bis an Küsten der Staaten an den europäischen Außengrenzen schaffen, nimmt weiter ab, denn die europäischen Staats- und Regierungschefs haben es geschafft, die Grenzkontrolle auszulagern. Inzwischen ist es für Flüchtlinge, die über die Mittelmeerroute reisen, fast unmöglich geworden, in der Festung Europa Asyl zu suchen.
Das ist das Ergebnis von Abkommen, welche die Europäische Union mit Drittländern, insbesondere mit der von den Vereinten Nationen unterstützten libyschen Regierung, getroffen hat. Zu dem Deal gehört auch, dass europäische Streitkräfte die libysche Küstenwache ausbilden. Leider wurde dabei vergessen, einen Kurs über Menschenrechte in die Ausbildung zu integrieren.
Ein Video der New York Times zeigt verstörende Szenen von libyschen Küstenwacheoffizieren, die passiv zusehen, wie Dutzende von Menschen ertrinken, während sie die Besatzung eines Schiffes der deutschen Hilfsorganisation Sea-Watch bedrohen und bei ihren Versuchen Menschenleben zu retten behindern.
Während die EU-Mitgliedstaaten damit beschäftigt sind, ihre Grenzen zu versiegeln und dabei den Tod Tausender von Migranten billigend in Kauf nehmen, haben immer mehr Städte beschlossen, sich ihrer Regierung zu widersetzen und selbst zu Zufluchtsorten für Migranten zu werden.
"Bedingungsloses Willkommen" für Flüchtlinge
Mehrere einflussreiche lokale Politiker haben beschlossen, die restriktive Migrationspolitik ihrer Regierung nicht blind zu akzeptieren. In Italien lehnten die Bürgermeister von Florenz, Palermo und Neapel offen das kürzlich verabschiedete Anti-Einwanderungsgesetz ab, das die Aufenthaltsgenehmigungen einschränkt und die Abschiebung von Migranten erleichtert. Das Gesetz hebt auch den humanitären Schutz auf und hat zur Schließung des zweitgrößten Aufnahmezentrums Italiens geführt, wodurch Hunderte von Migranten auf die Straße gezwungen werden.
Der Bürgermeister von Palermo, Leoluca Orlando, der Innenminister Matteo Salvini beschuldigte, mit seiner fremdenfeindlichen Rhetorik Falschmeldungen über Flüchtlinge zu verbreiten und Kriminalität zu produzieren, ist zu einem Symbol des Widerstands gegen die harte Linie des Landes gegen die Migration geworden. Zuletzt trotzte er Salvini, indem er das neue Einwanderungsgesetz ignorierte und vier Migranten eine uneingeschränkte Aufenthaltsgenehmigung eintragen ließ.
In Frankreich haben sich Städte und Gemeinden zusammengeschlossen, um ihrem "bedingungslosen Willkommen" für Flüchtlingen Ausdruck zu verleihen und von ihrer Regierung, die gerade erst strengere Migrationsgesetze verabschiedet hatte, zu verlangen, dass sie ihre Verantwortung für Lösungen bei der Aufnahme, Unterbringung und Unterstützung der Hilfesuchenden übernimmt.
In Belgien haben sich mehr als 60 französischsprachige Gemeinden der Bewegung "communes hospitalières"(gastfreundliche Gemeinden) angeschlossen, um sich zur Umsetzung der Aufnahmepolitik zu verpflichten und ihre Bürger für die Unterstützung von Flüchtlingen zu mobilisieren.
In Polen ist die Stadt Gdańsk zu einer tragenden Säule der Solidarität mit Migranten und Flüchtlingen geworden. Während Polens De-facto-Herrscher Jarosław Kaczyński in der Vergangenheit gewarnt hat, dass Migranten "alle möglichen Parasiten" einschleppen würden, die Scharia aufzwingen und Kirchen als "Toiletten" benutzen wollen, gelang es Paweł Adamowicz, der bis zu seiner tragischen Ermordung während einer Veranstaltung im Januar Bürgermeister von Gdańsk war, die Bevölkerung von Gdańsk hinter Migranten und Flüchtlingen zu sammeln und zu verkünden, dass die Stadt bereit sei, mehr Flüchtlinge aufzunehmen.
Ein von EUROCITIES, einem Netzwerk von mehr als 140 europäischen Großstädten, und dem Bürgermeister von Athen initiiertes Projekt umfasst Dutzende von europäischen Städten, um die Aufnahme und Integration von Flüchtlingen und Asylbewerbern besser anzugehen. Berlin ist das jüngste Mitglied des Clubs "Solidarity Cities", zu dem auch große europäische Hafenstädte wie Barcelona, Athen, Neapel, Hamburg und Rotterdam gehören.
Solidarität mit privaten Seerettungsorganisationen
Neben den allgemeinen Unterschieden in der Bewertung der Migrationspolitik, liegt der größte Streitpunkt zwischen den Zufluchts-Städten und den nationalen Regierungen wahrscheinlich in der Frage, was mit den im Mittelmeerraum geretteten Menschen geschehen soll. Während die europäischen Staats- und Regierungschefs nicht in der Lage waren, nachhaltige Lösungen zu finden, haben die Städte ihre Bereitschaft bekundet, mehr Migranten aufzunehmen.
Als Ende letzten Jahres die europäischen Staats- und Regierungschefs darüber nachdachten, was mit den 32 geretteten Menschen an Bord der Sea-Watch 3 geschehen soll, die anschließend wochenlang vor der Küste Maltas herumdümpeln und auf die Genehmigung zum Verlassen des Schiffes warten mussten, erklärten mehr als 30 deutsche Bundesländer und Städte, dass die Migranten in ihren Gemeinden willkommen seien.
In Italien haben dieselben Bürgermeister, die sich gegen das Einwanderungsgesetz Salvinis aussprechen, auch seine Haltung gegenüber privaten Rettungsaktionen im Mittelmeerraum scharf kritisiert. Sie haben sich auch bereit erklärt, ihre Häfen für die blockierten Schiffe deutscher Hilfsorganisationen mit geretteten Migranten an Bord zu öffnen.
In Spanien bat die Bürgermeisterin von Barcelona, Ada Colau, ihre Regierung, dem NGO-Rettungsschiff von Proactiva Open Arms das Verlassen des Hafens von Barcelona zu gestatten, was diesem bisher verweigert wurde, weil es angeblich bei früheren Rettungseinsätzen gegen die Seeverkehrsvorschriften verstoßen habe.
Sich einen Platz an der Tafel sichern
Die Städte haben jedoch nur wenig Handlungsspielraum, da die Asylpolitik in die nationale Zuständigkeit fällt und die lokalen Haushalte oft nicht ausreichen, um mehr Flüchtlinge aufzunehmen. Infolgedessen ist die Bewegung "Fearless Cities" entstanden, die ein Gegengewicht zu den Zentralregierungen bildet. Das erste Treffen fand 2018 in Barcelona statt, gefolgt von mehreren regionalen Gipfeln in Städten wie Brüssel, Warschau und New York.
Die Idee hinter der Bewegung ist eine Dezentralisierung der Macht, bei der Städte und Gemeinden über ihre eigenen Angelegenheiten entscheiden können. Dieser Bottom-up-Ansatz hat den zusätzlichen Vorteil, dass die Zivilgesellschaft, die direkt von Entscheidungen auf nationaler und europäischer Ebene betroffen ist, einen Platz am Tisch erhält.