Auch wenn autoritäre populistische Parteien einer Mehrheit nicht nahegekommen sind, wird es für die EU schwieriger, weiterhin Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Grundrechte zu schützen. Das liegt daran, dass die Anti-Werte-Parteien innerhalb der wichtigsten Fraktionen im Herzen des Europäischen Parlaments stärker geworden sind. Es ist immer noch möglich, verschiedene Pro-Werte Koalitionen zu bilden. Aber nur wenn die Fraktionen bereit sind, ihre faulen Eier rauszuwerfen und über politische Grenzen hinweg zusammenzuarbeiten. Das Warten auf den Brexit könnte für die Abgeordneten des Europäischen Parlaments eine Chance sein, dies zu ermöglichen.
Wie in unserem #Vote4Values Wahl-Tracker 2019 vorhergesagt, sind wertefeindliche Parteien innerhalb des politischen Mainstreams stärker geworden. Anders ausgedrückt, jede der drei größten Fraktionen enthält Anti-Werte-Parteien und durch die Wahlen haben diesen Parteien mehr Macht und Einfluss auf die sie mittragenden Mainstream-Fraktionen gewonnen.
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In der folgenden Tabelle zeigen wir die Zusammensetzung des Europäischen Parlaments nach den Wahlen. Diese Zahlen basieren auf Politico's European Elections Poll of Polls mit dem Stand vom 27. Mai um 10:54. Dazu gehören die Endergebnisse für 6 Länder, vorläufige Ergebnisse für 19 Länder und nationale Ausgangsbefragungen für 2 Länder. Wir haben die Abgeordneten von Anti-Werte-Parteien schwarz markiert.
Wie hat sich der Einfluss der Anti-Werte-Parteien auf die Mainstream-Fraktionen erhöht
Wertefeindliche Europa-Abgeordnete brauchen keine Mehrheit zu erreichen, um die Bemühungen der EU zum Schutz unserer Grundwerte zu blockieren, wenn sie die wichtigsten politischen Gruppen von innen heraus beeinflussen können. Und Anti-Werte-Parteien haben ihren Einfluss auf ihre Wirts-Fraktionen erhöht. Sie sind entweder mehr geworden und/oder im Verhältnis zur Größe ihrer Wirts-Fraktion gewachsen und/oder sie sind zu einer der größten Parteien in ihren Fraktionen geworden. Im Folgenden zeigen wir, was das für die Mainstream-Fraktionen bedeutet:
- Mitte-Rechts EVP. Ungarns Fidesz machte im scheidenden Europaparlament 5,1% der EVP-Fraktion aus, sie hielt 11 der 216 Sitze der Fraktion. Die EVP hat insgesamt 34 Sitze verloren während Fidesz sogar 2 Sitze dazugewinnen konnte. Jetzt hält Fidesz 13 von 182 Sitzen, so dass sie jetzt 7,1% der EVP ausmacht. Sie ist nun die viertgrößte Partei in der EVP nach der deutschen (29), der polnischen (18) und der rumänischen (14) Delegation. Zuvor kam sie erst an siebter Stelle.
- Mitte-links S&D. Die S&D-Fraktion hielt 185 Sitze im scheidenden Europäischen Parlament. Davon hielten die drei Anti-Werte-Parteien in der S&D-Fraktion zusammen 17 Sitze und machten somit 9,2% aus. Die Parteien sind: Maltas Partit Luburista (mit 3 Sitzen), Rumäniens Partidul Social Democrat (mit 10 Sitzen) und die slowakische SMER-Partei (mit 4 Sitzen). Die gesamte S&D-Fraktion hat fast 40 Sitze verloren, während die drei Anti-Werte-Parteien in etwa gleich geblieben sind (die rumänische PSD verlor einen Sitz). Damit erreichen diese drei Parteien 10,8 % ihrer Gruppe. Wenn diese drei Parteien zum gegenseitigen Schutz zusammenhalten, werden sie zahlenmäßig nur von der spanischen (20) und der italienischen (19) Delegation in der S&D-Fraktion geschlagen.
- Liberale ALDE. Die ANO-Partei der Tschechischen Republik und die ALDE-Partei Rumäniens hatten jeweils zwei Sitze im scheidenden Europäischen Parlament. Das waren 4 von 69 Sitzen, was bedeutet, dass sie 5,8% der ALDE-Fraktion im Europäischen Parlament ausmachten. Wie erwartet, verbesserte sich die tschechische ANO von 2 auf 6 Sitze. Aber entgegen den Prognosen der Umfragen gewann die rumänische ALDE-Partei keine Sitze bei dieser Wahl. Die ALDE-Fraktion wuchs bei dieser Wahl auf 110 Sitze. Somit hat die ANO-Partei nun proportional etwa das gleiche Gewicht (5,5 %), wie im scheidenden Europaparlament die beiden Anti-Werte-Parteien zusammen. Die ANO, die zuvor zu den kleineren Mitgliedern gehörte, ist nicht nur gewachsen, sie ist jetzt auch die fünftgrößte Einzelpartei innerhalb der ALDE-Fraktion.
- Rechte, euroskeptische ECR. Die polnische PiS (Recht und Gerechtigkeit) hielt im scheidenden EU-Parlament 14 der 63 Sitze (22,2%) innerhalb der ECR-Fraktion. Sie hat jetzt 26 Sitze erreicht, während die ECR insgesamt auf 59 gesunken ist. Das bedeutet, dass die PiS 44% der Gruppe ausmacht. Sie ist mehr als fünfmal so groß wie die nächstgrößere Partei in der ECR-Fraktion. Zuvor war die PiS die zweitgrößte in der Gruppe nach der britischen Konservativen Partei.
Auch wenn das auf den ersten Blick so aussehen könnte, als handele es sich nur um geringe Verschiebungen, reichen die Zahlen doch aus, um den Anti-Werte-Parteien einen größeren Einfluss auf ihre Fraktionen und damit einen zu großen Einfluss auf das Handeln der EU zu geben. Alle vier Gruppen haben in der Vergangenheit versucht, zumindest einige ihrer Anti-Werte-Mitglieder vor Kritik der EU zu schützen. Und jetzt, da diese Parteien ihre Stärke oder ihren Status in der Gruppe erhöht haben, wird es nur noch schlimmer werden.
Wie können Parteien, die gegen die Werte verstoßen, EU-Bemühungen zum Schutz der Grundwerte blockieren?
Anti-Werte-Parteien haben jetzt mehr Einfluss, den sie nutzen können um ihre Wirts-Fraktionen davon zu überzeugen, EU-Maßnahmen zum Schutz von Grundwerten zu blockieren, wenn ihnen diese nicht in den Kram passen. So wurde kürzlich vom Europäischen Parlament ein Gesetz verabschiedet, das es der EU ermöglichen würde, zu verhindern, dass europäische Gelder an Regierungen gehen, die in umfassende Korruption verwickelt sind oder die versuchen, Richter unter politische Kontrolle zu bringen. Aber in Zukunft könnte es schwer werden, diese Art von Maßnahme zu ergreifen. Und das liegt daran, dass eine Anti-Werte-Partei den Rest ihrer Gruppe dazu bringen könnte, dagegen zu stimmen. Und wenn man bedenkt, dass Salvinis EAPN, die ECR-Fraktion (unter dem Einfluss der PiS) und die neue Gruppe, die aus der 5-Sterne-Bewegung Italiens hervorgehen wird, sich ebenfalls gegen diese Art von Maßnahmen aussprechen würde, könnte dies ausreichen, um solche Initiativen zu verhindern.
Möchtest Du mehr über die EAPN, die ECR und die 5-Sterne-Bewegung erfahren? Informiere Dich hier über unsere Methodik. Was geht Dich das nächste EU-Parlament an? Lass Dir hier die Grundlagen erklären.
Für die nahe Zukunft könnte das bedeuten, dass Teile des nächsten siebenjährigen Haushaltsplans der EU (mehrjähriger Finanzrahmen oder MFR) nicht ausreichend finanziert werden. So könnten beispielsweise Anti-Wert Parteien ihren Einfluss nutzen, um Geld für einen neuen EU-Fonds zur Unterstützung von Bürgerrechts- und Demokratiegruppen in der EU zu blockieren. Die EU hat auch über die Schaffung eines neuen EU-Überwachungssystems nachgedacht, um zu überprüfen, wie die Regierungen ihrer Mitgliedstaaten ihren Verpflichtungen zur Wahrung von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Grundrechten nachkommen. Bemühungen, dies zu erreichen, könnten ebenfalls blockiert werden. Und es würde für das Europäische Parlament fast unmöglich werden, das Verfahren nach Artikel 7 zu aktivieren. Dabei handelt es sich um einen Mechanismus, mit dem verhindert werden soll, dass Regierungen Grundwerte angreifen. Dieser Mechanismus wurde vor Kurzem in Bezug auf Ungarn und Polen angewandt. Für das Europäische Parlament könnte es unmöglich werden, das Verfahren zu aktivieren, weil es dafür einer Zweidrittelmehrheit der Abgeordneten und nicht einer einfachen Mehrheit bedarf.
Wie das Europäische Parlament mit Pro-Werte Koalitionen funktionieren könnte
Aber so muss das nicht laufen. Abgeordnete, die Parteien angehören, die nominell die Grundwerte Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Grundrechte unterstützen, machen eine überwältigende Mehrheit von rund 70 Prozent aus. Um unsere Werte zu schützen, müssen sie über politische Grenzen hinweg zusammenarbeiten. Aber sie können das nur tun, wenn sie ihre Anti-Werte-Parteien ausschließen und dann in einer Koalition zusammenarbeiten.
Die wichtigsten Fraktionen haben nichts zu verlieren, wenn sie ihre faulen Eier loswerden, denn allein hat keine einzige Fraktion genug Sitze, um zu regieren. Sie werden in jedem Fall in einer Koalition zusammenarbeiten müssen. Und wenn sie ihre wertefeindlichen Parteien loswerden, werden sie immer noch die Zahlenstärke haben, um eine Mehrheit zu erreichen.
Wir wollen drei mögliche Pro-Werte Koalitionen aufzeigen, die gebildet werden könnten, wenn EVP, S&D und ALDE ihre wertefeindlichen Parteien ausschließen.
Die Koalition mit der schmalsten Mehrheit wäre eine großliberale Koalition, die sich aus EVP-S&D-ALDE zusammensetzt. Damit würden 404 Abgeordnete, eine Mehrheit von 28 Abgeordneten, hinzukommen.
Die nächstgrößere Koalition wäre eine Super-Große Koalition aus EVP S&D Grünen und GUE/NGL. Das würden zu einer Fraktionsstärke von 406 Abgeordneten führen, eine Mehrheit von 30 Abgeordneten.
Und die größte Koalition wäre eine Große/Grüne Plus-Koalition aus EVP-S&D-Grünen und ALDE. Damit hätten 471 EU-Abgeordnete eine Mehrheit von 95 Sitzen.
Welche Auswirkungen sind vom Brexit zu erwarten?
Wir haben noch keine genauen Zahlen darüber, wie die Fraktionen nach dem für Ende Oktober erwarteten Ausscheiden Großbritanniens aussehen werden. Es reicht leider nicht, einfach die britischen Abgeordneten aus der Gleichung zu streichen. Der Grund dafür ist, dass einige der 73 Sitze des Vereinigten Königreichs auf die EU-Länder umverteilt werden sollen, um dem Bevölkerungswachstum Rechnung zu tragen, seit die Sitze vor Jahren erstmals zwischen den EU-Mitgliedern aufgeteilt wurden. Generell erwarten wir, dass die Größe der EVP und der rechtspopulistischen EAPN etwas zunimmt, während ALDE, die S&D-Fraktion und die Grünen-EFA kleiner werden.
Ausgehend von den Umfragedaten vor den Wahlen, die alternative Berechnungen über die Größe der Parteien nach dem Brexit enthielten, sieht es so aus, als würden die drei Koalitionen, die wir gerade beschrieben haben, noch funktionieren.
Der verspätete Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU könnte aus zwei Gründen zu einer Verzögerung bei der Aufnahme der Arbeit des Europäischen Parlaments führen.
Erstens könnte es Auswirkungen auf die Anhörungen für die neue Kommission geben. Im Rahmen des Auswahlverfahrens für die Mitglieder der nächsten Kommission müssen die Kommissarinnen und Kommissare an Anhörungen im Europäischen Parlament teilnehmen. Das Europäische Parlament muss dann abstimmen, um die neue Führungsriege als Ganzes zu genehmigen. Da erwartet wird, dass die britischen Europaabgeordneten in den nächsten Monaten abreisen werden, könnte das Europäische Parlament beschließen, die Anhörungen der Kommissare zu verschieben. Andernfalls würden die britischen EU-Abgeordneten am Ende ein Mitspracherecht gegenüber der Kommission haben, die helfen soll, eine EU zu führen, der die britische Regierung und ihre Abgeordneten gar nicht mehr angehören werden.
Zweitens könnte das Ganze einen Einfluss auf die Verteilung von Ressourcen und Macht zwischen den Fraktionen haben. Jede Fraktion im Europäischen Parlament erhält ein Budget, das Recht auf bestimmte Positionen in den Ausschüssen des Europäischen Parlaments und Punkte, die es jeder Fraktion ermöglichen, sich zu bewerben, bei einzelnen Gesetzgebungsvorhaben die Führung zu übernehmen. Diese werden entsprechend der Größe der Gruppe verteilt. Da das Vereinigte Königreich voraussichtlich innerhalb der nächsten fünf Monate die Koffer packen wird, könnte das Europäische Parlament beschließen, mit der Zuteilung dieser Ansprüche bis nach dem Brexit zu warten. Andernfalls müsste sie ihre Entscheidungen überarbeiten und die Zuweisungen ändern, nachdem das Vereinigte Königreich ausgeschieden ist.
Die Chance des Brexit
Diese möglichen Verzögerungen haben einen potenziellen Vorteil: Die Fraktionen im Europäischen Parlament haben mehr Zeit, als sie normalerweise für die Aushandlung eines Koalitionsvertrags benötigen würden. Dies könnte beispielsweise der EVP, der S&D und der ALDE die Zeit geben, sich gemeinsam darauf zu einigen, ihre jeweiligen Anti-Werte Parteien auszuschließen, bevor das Europäische Parlament seine Arbeit aufnimmt. So sollten beispielsweise bereits nach den Wahlen Entscheidungen über die Mitgliedschaft von Fidesz in der EVP und der rumänischen SPD in der S&D-Fraktion getroffen werden. Politische Gruppen könnten ihre Teilnahme an einer Koalition vom Ausschluss wertefeindlicher Parteien abhängig machen.