Hast Du Dich jemals gefragt, warum Flüchtlinge nicht einfach und bequem mit dem Flugzeug nach Europa reisen, anstatt auf dem Seeweg in kleinen aufblasbaren Schlauchbooten ihr Leben zu riskieren? Schließlich sind Flugzeuge viel sicherer als kleine Schlauchboote. An den Kosten kann es nicht liegen, denn Flüchtlinge zahlen Schmugglern oft Tausende von Euro für einen Platz auf einem der Boote, während Flugtickets von der Türkei nach Deutschland häufig schon für weniger als 50 Euro zu haben sind. Vielleicht konnten sie ihr Land nicht verlassen, um einen Flughafen zu erreichen? Das kann es auch nicht sein. Im Jahr 2015 haben sich die meisten syrischen Flüchtlinge in die Türkei begeben, um ein Boot zu nehmen, aber sie hätten problemlos zum Istanbuler Flughafen Atatürk fahren können. Was genau steckt also hinter diesen Entscheidungen? Warum sollte jemand sein Leben einem kleinen, überfüllten Schlauchboot anvertrauen, anstatt einem gut ausgerüsteten Flugzeug? Nun, die Antwort ist genauso einfach wie komplex.
Die einfache Antwort
Die einfache Antwort ist, dass sie nicht wählen dürfen. Es ist nicht so, als würden ihnen zwei Reisemöglichkeiten angeboten, eine, die billig, sicher und komfortabel ist, und eine andere, die lang, teuer und gefährlich ist, und sie wählten letztere, weil sie spannender ist. Nein, die Wahrheit ist, dass sie, wenn sie zum Flughafen gegangen wären, am Check-in-Schalter vom Personal der Fluggesellschaft aufgehalten worden wären. Warum ist das so? Nun, das ist die komplexe Antwort.
Die komplexe Antwort
Das ganze hängt mit einer EU-Richtlinie zusammen, der Carrier Sanctions Directive 2001/51/EG, die Sanktionen gegen Fluggesellschaften verhängt, wenn sie Passagiere befördern, die nicht im Besitz gültiger Reisedokumente sind. Die Strafen reichen, je nach Land, von 3.000 Euro pro Passagier bis hin zu einem Pauschalbetrag von 500.000 Euro. Die Beförderer müssen auch die Kosten für den Rückflug des Passagiers übernehmen. Das klingt zunächst nach einer vernünftigen Maßnahme zur Bekämpfung der illegalen Einwanderung. Sie hat jedoch einen Schönheitsfehler.
In Absatz 3 der Richtlinie heißt es, dass die Unterzeichner die Richtlinie anwenden müssen "ohne dass dadurch die Verpflichtungen aus dem Genfer Abkommen von 1951" beeinträchtigt werden, zu dem auch das Verbot der Zurückweisung gehört. Mit anderen Worten, die Richtlinie sollte Flüchtlinge nicht daran hindern, Asyl zu beantragen. Aber genau das tut sie. Flüchtlinge, die aus Konfliktzonen fliehen, sind oft nicht in der Lage, Pässe, geschweige denn Visa zu erhalten, zum Teil weil die meisten Botschaften in kriegsgebeutelten Ländern geschlossen sind. Für syrische Flüchtlinge im Jahr 2015 war es fast unmöglich, in der Türkei ein Visum zu erhalten, da die Botschaften nicht über die erforderlichen Ressourcen verfügen, um das Antragsvolumen zu bearbeiten.
Die Richtlinie überlässt es dem Personal der Fluggesellschaften, zu entscheiden, wer ein potenzieller Asylbewerber ist. Stell dir das mal vor. Das Personal der Fluggesellschaften soll ganz ohne einschlägige Erfahrung innerhalb von 45 Sekunden entscheiden, wer ein Flüchtling ist und wer nicht, während die Botschaften für diese Entscheidung Monate brauchen. Den Beförderern werden Geldbußen angedroht, wenn sie einem Migranten ohne 100% gültige Dokumente die Einreise gestatten, aber es gibt keine Sanktionen für die Verweigerung der Einreise eines Asylbewerbers. Daher verweigern die Fluggesellschaften Personen, die keine gültigen Dokumente haben, die Erlaubnis, das Flugzeug zu betreten. Sie haben nichts zu gewinnen, aber viel zu verlieren.
Um das Personal der Fluggesellschaften bei der Entscheidung, wer Asyl erhalten soll, zu unterstützen, haben die EU-Mitgliedstaaten Dokumentenexperten oder sogenannte Verbindungsbeamte für Einwanderungsfragen (ILOs) auf Großflughäfen entsandt. Laut einem Bericht der Europäischen Agentur für Grundrechte (FRA) können diese Beamten "die Fluggesellschaften dabei unterstützen festzustellen, ob einzelne Fluggäste, die scheinbar nicht die richtigen Dokumente bei sich tragen, dennoch 'bona fide' sind und befördert werden können, ohne dass der Fluggesellschaften nach den geltenden Rechtsvorschriften finanzielle Schäden entstehen". Die ILOs haben jedoch nur begrenzte Befugnisse und können das Personal der Fluggesellschaften nur beraten. Die endgültige Entscheidung bleibt dem Personal überlassen. Es ist daher sehr fraglich, ob Fluggesellschaften das Risiko eingehen würden, einen schlecht dokumentierten Passagier zu befördern.
Outsourcing der Grenzkontrolle
Mit der Praxis, die Grenzkontrollen an Fluggesellschaften zu delegieren, kommt die EU ihrer Verantwortung für den Flüchtlingsschutz nicht nach. Carrier-Sanktionen sind eines der besten Beispiele für die Privatisierung des Migrationsmanagements. Durch die Verhängung von Sanktionen gegen Beförderungsunternehmen blockiert die Festung Europa mit einer Fernkontrollpolitik den Zugang zu ihrem Territorium. Die Sanktionen machen es für Flüchtlinge äußerst schwierig, sicher nach Europa zu reisen, weshalb sie sich an Schmuggler wenden, die zu den Hauptbegünstigten werden. Allein im Jahr 2015 verdienten sie mit dem Transport von Migranten nach Europa mehr als fünf Milliarden Dollar.
Dies hat nicht nur nachteilige Auswirkungen auf die Schutzsuchenden, angesichts der beispiellosen Zahl illegaler Einwanderer in der EU im Jahr 2015 ist es äußerst fraglich, wie wirksam die Richtlinie überhaupt ist. Das European Council for Refugees and Exiles (ECRE) stellt fest: "Die Sanktionen der Beförderer mögen sicherlich erfolgreich gewesen sein, Migranten, Asylbewerber und Flüchtlinge am Zugang zu regulären Transportmitteln zu hindern, aber anscheinend haben sie nicht zu einer wesentlichen Verringerung des Gesamtvolumens der irregulären Migration in die EU geführt sondern lediglich zur Nutzung irregulärer Wege beim Grenzübertritt beigetragen."
Akademische Studien haben gezeigt, dass diese Maßnahmen nicht nur innerhalb der EU sehr unterschiedlich ausfallen, sondern auch, dass sie kaum einen Einfluss auf die Zuwanderung haben und dass es ihnen an Transparenz bei der Entscheidungsfindung fehlt. Das ist nicht nur unfair gegenüber den Asylsuchenden, es verzerrt auch die Statistiken und spielt rechtsextremen Politikern in die Hände.
Sichere und legale Wege
Anstatt darüber zu diskutieren, wie Schmugglernetze ausgehoben werden können, sollte sich die EU darauf konzentrieren, sichere und legale Wege für Flüchtlinge zu schaffen. Die Aufhebung oder zumindest Aussetzung der Visumpflicht und der Sanktionen für Beförderer würde eine sichere und rechtmäßige Ankunft gewährleisten und gleichzeitig der Geschäftsgrundlage der Schmuggler erheblichen schaden. Die Erteilung von mehr humanitären Visa in europäischen Botschaften außerhalb der EU würde die Zahl der Todesopfer von Flüchtlingen weiter senken.
Die EU tut jedoch das Gegenteil. Die jetzt in Kraft tretenden neuen Migrationsgesetze sehen vor, dass Asylsuchende, auch Kinder, legal inhaftiert werden können. Anstatt es marginalisierten Menschen leichter zu machen, ein Zuhause zu finden, setzt das neue Gesetz sie einem größeren Risiko aus. Flüchtlinge haben etwas Besseres verdient.
Sanktionen gegen Fluggesellschaften, eine restriktive Visapolitik und andere Maßnahmen zur Verringerung der Zahl der ankommenden Flüchtlinge, zwingen diese, auf irreguläre Migrationskanäle zurückzugreifen, machen sie anfällig für Menschenrechtsverletzungen und bringen sie ironischerweise dazu, ihr Leben zu riskieren, um einen sicheres Asyl zu erreichen. Die EU-Mitgliedstaaten tragen für den Flüchtlingsschutz eine weitaus größere Verantwortung als die Fluggesellschaften. Sie sollten entsprechend handeln.
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