Technologie & Rechte

Im Gespräch mit HCLU, Ungarn | Wahlbeobachtungsgespräche

Hast du dich jemals gefragt, ob es in Ungarn eine Obergrenze für Wahlkampfausgaben bei Kommunalwahlen gibt? Die Antwort ist nein. Mikrotargeting, Marketingtechniken mit fragwürdigem Datenschutz und "Flächenbombardements" sind die Folge.

by Jamison Gaither

Seit 2010 wird Ungarn mit absoluter Mehrheit von einer Regierung kontrolliert, die von einer rechtsgerichteten Koalition aus Victor Orbáns Fidesz und der Christlich-Demokratischen Volkspartei (KDNP) angeführt wird. Um ihre Vormachtstellung so lange aufrechtzuerhalten, haben es Orbán und seine Verbündeten verstanden, das modernste Instrument der Selbstvermarktung, die sozialen Medien, zu ihrem Vorteil einzusetzen. Allerdings konnte Tisza, eine Oppositionspartei, die vom ehemaligen Fidesz-Insider Péter Magyar geführt wird, bei den Europawahlen im Juni große Erfolge erzielen. Obwohl Fidesz 44,6 Prozent der Stimmen erhielt, konnte Tisza immerhin 29,7 Prozent der Stimmen für sich verbuchen. Das war das schlechteste Ergebnis für Fidesz seit zwei Jahrzehnten und nicht wenige Beobachter*innen sehen darin das Erstarken eines „echten Herausforderers“ für Fidesz.

Angesichts der neuen Konkurenz erlauben die ungarischen Wahlen interessante Einblicke in die Werbestrategien der Regierung und der Oppositionsparteien. Um ein besseres Bild von politischen Kampagnen in Ungarn zu erhalten, haben wir mit Dániel Döbrentey, dem Leiter des Programms für politische Freiheiten der Hungarian Civil Liberties Union (HCLU), gesprochen. Die HCLU kooperiert mit Liberties im Rahmen des Projekts zur Integrität von Wahlen und politischem Mikrotargeting (Electoral Integrity and Political Microtargeting) zusammen.

Das Projekt untersucht in sechs Mitgliedstaaten, wie politische Akteure Social-Media-Plattformen zur Umgehung von Wahlkampfregeln nutzen und wie wenig es diesen Plattformen gelingt, die persönlichen Daten ihrer Nutzerinnen und Nutzer zu schützen. Dank seiner Erfahrung im Kampf gegen unzulässige Eingriffe und Machtmissbrauch auf allen Ebenen der ungarischen Behörden, ist Daniel genau der richtige, um uns einige der ersten Erkenntnisse aus den mittels einer von unserem Partner Who Targets Me entwickelten Web-Extension gesammelten Daten des Projekts zu erläutern.

Die Kampagne zur Europawahl wurde von Facebook dominiert

Laut Dániel hat die freiwillig herunterladbare Browser-Erweiterung „Who Targets Me“, durch die Analyse der in Ungarn eingeblendeten Facebook-Anzeigen, eine Fülle von Daten ergeben. Obwohl noch viel Arbeit vor ihnen liegt, um die verbleibenden Daten zu sortieren, erklärte Dániel, dass etwa 3.400 einzigartige Werbetreibende identifiziert werden konnten, darunter sowohl Verbündete von Fidesz-KDNP und Oppositionsparteien, als auch unabhängige Wahlkämpfer*innen und andere Akteure. Facebook ist in Ungarn die mit Abstand beliebteste Social-Media-Plattform, und Dániel machte deutlich, dass die Vorherrschaft von Facebook nicht unterschätzt werden darf. „Alle anderen Plattformen sind präsent, aber fast alle politischen Aktivitäten konzentrieren sich auf Facebook. Selbst auf lokaler Ebene haben lokale Parteiorganisationen, Bürgermeister und Vertreter ihre eigenen Facebook-Seiten, und Oppositionsparteien haben das auch, manchmal sogar in Kleinstädten“, erklärte er.

Dies hat, erleichtert durch das ungarische Recht, das keine Beschränkungen für Wahlkampfausgaben bei Europawahlen oder Kommunalwahlen vorsieht, im Wahlkampf zu einer Explosion der politischen Werbung auf Facebook geführt. Daniel geht davon aus, dass sich eine solche Politik auf die Strategien der politischen Werbetreibenden ausgewirkt hat, insbesondere auf deren Einsatz von Mikrotargeting. Mikrotargeting, d. h. die gezielte Nutzung der Online-Daten einer Person, um Schwachstellen zu identifizieren und maßgeschneiderte Werbebotschaften für diese Personen zu erstellen, war bei den Wahlen sehr weit verbreitet. Laut Daniel „setzen alle politischen Parteien in gewissem Umfang auf Targeting. Es gibt eine interessante Kategorie prominenter Persönlichkeiten, die wir als die "getarnte" Regierung bezeichnen. Darüber hinaus haben wir festgestellt, dass auch Oppositionsparteien, Politiker und unabhängige Wahlkämpfer diese Techniken nutzen, es geht also nicht nur um Fidesz.“

Keine Ausgabenbegrenzung, Mikrotargeting und „Flächenbombardements“

Dániel hatte erwartet, dass das Fehlen von Obergrenzen für Wahlkampfausgaben bei Europa- und Kommunalwahlen dazu führen würde, dass größere regierungsnahe Gruppen weniger Microtargeting betreiben, da sie dank ihrer finanziellen Unterstützung Facebook mit Werbeanzeigen „regelrecht bombardieren“ können. Überraschenderweise war dies nicht der Fall: Sogar die Facebook-Seite des Ministerpräsidenten nutzte benutzerdefinierte oder ähnliche Zielgruppen und andere Targeting-Instrumente. Dániel erzählte uns, dass die HCLU Microtargeting von wichtigen Wahlkämpfern beobachtete, vor allem in Budapest, wo Microtargeting eingesetzt wurde, um Personen nach Wohnort zu sortieren. Dániel war auch darüber schockiert, dass Oppositionsgruppen und unabhängige Wahlkämpferinnen und Wahlkämpfer so häufig Targeting einsetzten, er war überrascht, dass die Opposition über die nötigen finanziellen Mittel dafür verfügt. Tatsächlich war es aber eine ihrer wichtigsten Strategien, was sicherlich auch daran liegt, dass - Stichwort "Shrinking Space", ihre Spielräume immer kleiner werden. Auch wenn Oppositionsgruppen bezahlte Werbung in den sozialen Medien nutzten, ist der Umfang der Ausgaben nicht mit dem vergleichbar, was regierungsnahe Politiker, Influencer und vergleichbare Akteure aufgebracht haben.

Eine der größten Herausforderungen für die Arbeit der HCLU ergab sich aus der überwältigende Zahl angeblich unabhängiger Werbetreibender in Ungarn, was eine Strategie politischer Akteure vermuten lässt, mit der sie ihre Kampagne ankurbeln und gleichzeitig die Vorschriften für Wahlwerbung umgehen wollen. Dániel erläuterte, es sei schwierig festzustellen, ob Werbetreibende, die Anzeigen schalten, ohne eine bestimmte politische Zugehörigkeit zu zeigen, deren Inhalte aber die Botschaften einer bestimmten Partei widerspiegeln, wirklich unabhängig sind. Zum Zeitpunkt unseres Gesprächs hatte Dániel noch etwa 2.000 politische Werbetreibende zu analysieren. Die bisherigen Ergebnisse lassen jedoch darauf schließen, dass Microtargeting unabhängig von der politischen oder finanziellen Position der Werbetreibenden weit verbreitet ist.

Probleme beim Datenschutz? Scheinen die ungarische Datenschutzbehörde nicht weiter zu kümmern.

Advocacy zu diesem Thema wird für Dániel und die HCLU in Zukunft nicht den Schwerpunkt ihrer Arbeit bilden. Das Problem ist laut Dániel, dass „im ungarischen Kontext die Lobbyarbeit gegenüber der Regierung oder dem Parlament bei politisch sensiblen Themen absolut ineffektiv ist, Organisationen der Zivilgesellschaft werden in den meisten Fällen vollkommen ignoriert.“ Dániel ist enttäuscht von der ungarischen Datenschutzbehörde, die laut ihrer Website „für die Überwachung und Förderung der Durchsetzung von zwei Grundrechten verantwortlich ist: das Recht auf Schutz personenbezogener Daten und das Recht auf Informationsfreiheit“. Doch als schwerwiegende Probleme im Zusammenhang mit dem Datenschutz gemeldet wurden (wie im Fall Pegasus), wurden keine nennenswerten Maßnahmen ergriffen. „Was die Regierungsparteien betrifft, so zögert die Datenschutzbehörde, Ermittlungen einzuleiten. Selbst wenn sie eine Untersuchung einleitet, sind ihre Ergebnisse oberflächlich“, erklärte Dániel.

Auch wenn Lobbyarbeit im aktuellen Kontext ein aussichtsloses Unterfangen bleibt, ist Dániel dennoch zuversichtlich, dass sie nach der Auswertung der verbleibenden Daten in der Lage sein werden, den vom Mikrotargeting Betroffenen Menschen Rechtsbeistand zu leisten. „Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es wichtiger ist, Daten in einen Kontext zu stellen, in dem ihre Präsentation und größere Transparenz einen Vorteil bieten können“.

Dániel erzählte auch von dem Vorhaben der HCLU, den Großteil der gesammelten Daten in einem im Spätherbst erscheinenden Bericht über die Wahlen zu veröffentlichen. Was auch immer kommen mag, im Rahmen der übergeordneten Mission der HCLU, die Menschenrechte zu verteidigen, werden Dániel und die HCLU weiterhin überwachen und analysieren, wie ungarische Behörden die Zivilgesellschaft auspressen.

Hier gibt es weitere Einblicke in ihre Arbeit.


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