Demokratie & Gerechtigkeit

Corona-Impfpflicht und die Menschenrechte: Fragen und Antworten

Angesichts des Anstiegs der COVID-19-Fälle in Europa überlegen immer mehr EU-Mitgliedstaaten, ob sie eine Impfpflicht einführen sollen. Außerdem wird jetzt die Rolle der EU bei einem koordinierten Vorgehen diskutiert.

by Orsolya Reich

Dieses Q&A soll die Implikationen solcher Pläne für die Menschenrechte erläutern.

Als Menschenrechtsorganisation kann die Civil Liberties Union for Europe die Mitgliedstaaten daran erinnern, welche Menschenrechtserwägungen zu beachten sind, bevor ein solches System eingeführt wird, aber solange einige dieser Erwägungen nicht eindeutig missachtet werden, können wir zu einzelnen Regelungen nicht Stellung nehmen. Das liegt daran, dass wir nicht über das notwendige medizinische und epidemiologische Fachwissen verfügen, um zu beurteilen, ob die jeweilige Maßnahme notwendig und verhältnismäßig ist.

1. Ab wann kann man von einer Impfpflicht sprechen? Verletzt die Impfpflicht unsere Grundrechte?

Wenn die Impf-Bestimmungen vorsehen, dass eine Person, die sich nicht impfen lässt, mit negativen Folgen wie Geldstrafen, dem Verbot des Zugangs zu bestimmten öffentlichen Räumen oder dem Verlust des Arbeitsplatzes rechnen muss, handelt es sich um eine Impfpflicht.

Solche Regelungen greifen unbestreitbar in unsere Grundrechte wie das Recht auf Leben, das Recht auf Achtung der Privatsphäre, oder die Religionsfreiheit ein. Aber Rechte müssen immer gegeneinander abgewogen werden. In bestimmten Fällen können Rechte eingeschränkt werden, um die Rechte anderer oder bestimmte legitime öffentliche Interessen zu schützen. Die einzige Ausnahme von dieser Regel ist das Verbot der Folter. In unserem Fall bedeutet dies, dass es immer illegal sein wird, Menschen physisch dazu zu zwingen, sich impfen zu lassen. Eine andere Form der Verpflichtung, wie z. B. eine Geldstrafe, könnte jedoch je nach den Umständen und der Faktenlage vertretbar sein.

2. Kann die Europäische Union eine Impfpflicht anordnen?

Die Regierungen haben der Europäischen Union die Befugnis ("Zuständigkeit") übertragen, Entscheidungen in bestimmten Politikbereichen zu treffen, die die Fähigkeit der Mitgliedstaaten zur Bekämpfung der aktuellen Coronavirus-Pandemie betreffen (siehe Punkt 13). Darüber hinaus kann die EU die Regierungen bei der Koordination ihrer Bemühungen zur Bekämpfung von durch Impfung vermeidbaren Krankheiten unterstützen (und tut dies auch). Allerdings ist die EU nicht befugt, Impfungen verbindlich vorzuschreiben. Innerhalb der Europäischen Union fällt die Impfpolitik weiterhin in die rechtliche Zuständigkeit der einzelnen Mitgliedstaaten.

3. Unter welchen Umständen ist eine Impfpflicht aus der Perspektive der Grundrechte gerechtfertigt?

Um gerechtfertigt zu sein, muss die Impfpflicht zunächst ein legitimes Ziel verfolgen. Die Liste der anerkannten legitimen Ziele umfasst den Schutz der öffentlichen Gesundheit und der Rechte anderer. Zweitens muss es sich um ein geeignetes Instrument handeln, um dieses Ziel zu erreichen. Drittens muss sie zur Erreichung dieses Ziels auch notwendig sein. Und viertens muss sie in einem angemessenen Verhältnis zu diesem Ziel stehen.

4. Sind die jetzt in Europa diskutierten Pläne für eine COVID-19-Impfpflicht gerechtfertigt?

Die Beurteilung, ob einzelne Impfvorschriften gerechtfertigt sind, erfordert nicht nur Fachwissen im Bereich der Menschenrechte, sondern auch im Bereich der Medizin und der Epidemiologie. Als Menschenrechtsorganisation kann die Civil Liberties Union for Europe die Mitgliedstaaten darauf hinweisen, welche Menschenrechtserwägungen beachtet werden müssen, bevor sie ein solches System einführen, aber solange einige dieser Erwägungen nicht konkret missachtet werden, sind wir nicht in der Lage, zu einzelnen Regelungen Stellung zu nehmen. Der Grund dafür ist, dass wir nicht über das notwendige medizinische und epidemiologische Fachwissen verfügen, um zu beurteilen, ob eine entsprechende Maßnahme notwendig und verhältnismäßig ist.

5. Was könnte ein legitimes Ziel für eine Impfpflicht sein?

Die Staaten haben die Pflicht, das Leben und die Gesundheit aller Mitglieder der Gesellschaft zu schützen. Daher gilt der Schutz der Bevölkerung vor den direkten und indirekten Folgen einer Epidemie (Krankheit, Tod, Zusammenbruch des Gesundheitssystems), beispielsweise durch die Entwicklung einer Herdenimmunität, als legitimes Ziel für eine Pflichtimpfung.

Dabei ist folgendes zu beachten: Die Regierungen sind zwar verpflichtet, die Menschen vor äußeren Gefahren zu schützen, sie haben aber nicht das Recht, sie vor ihren eigenen Entscheidungen zu schützen. Zur Veranschaulichung: Staaten können berechtigt sein, eine Impfpflicht einzuführen, um die gefährdeten Mitglieder der Gemeinschaft zu schützen, die nicht geimpft werden können, aber Impfvorschriften, die darauf abzielen, den Einzelnen auch gegen seine eigene Entscheidung gesund zu halten, wären nicht gerechtfertigt. Zur Klarstellung: Eine Impfpflicht mit dem alleinigen Ziel, Personen, die sich nicht impfen lassen wollen, gesund zu halten, ist nicht zu rechtfertigen. Eine Impfpflicht, die darauf abzielt, die Wahrscheinlichkeit zu verringern, dass diese Personen in so großer Zahl erkranken, dass sie das Gesundheitssystem funktionsunfähig machen, kann unter bestimmten Umständen gerechtfertigt sein.

6. Wann kann ein Impfmandat als angemessen betrachtet werden?

Wann immer eine Regierung eine Maßnahme einführt, die in die Grundrechte eingreift, muss sie prüfen, ob die betreffende Maßnahme angemessen ist. Das bedeutet, dass die Maßnahme geeignet sein muss, das legitime Ziel zu erreichen. Obligatorische Impfprogramme sind geeignete Maßnahmen, wenn die Impfungen nachweislich wirksam und sicher sind. Impfungen gelten als wirksam, wenn sie die Krankheit (oder zumindest einen schweren Krankheitsverlauf) verhindern können, und als sicher, wenn der erwartete Nutzen deutlich höher ist als die damit verbundenen Risiken. Ob eine bestimmte Impfung wirksam und sicher ist, ist eine Frage der wissenschaftlichen Erkenntnisse und kann sich im Laufe der Zeit ändern. Beispielsweise können Impfungen gegen verschiedene Virusvarianten unterschiedlich wirksam sein, und die vorherrschende Virusvariante in einem bestimmten Gebiet kann sich ändern - wie dies beim Coronavirus der Fall ist.

7. Wann kann eine Impfpflicht als notwendig erachtet werden?

Eine Impfpflicht kann nur dann als notwendig erachtet werden, wenn es keine weniger oder gar nicht restriktiven Maßnahmen gibt, mit denen sich das gleiche Ziel erreichen ließe. Gäbe es beispielsweise Belege dafür, dass Informationskampagnen zu den gleichen Impfquoten führen würden wie eine Impfpflicht, dann wäre es schwierig zu begründen, dass eine Impfpflicht notwendig ist. Im Allgemeinen müssen die Regierungen nachweisen können, dass alternative Maßnahmen, die nicht so stark in die Rechte der Menschen eingreifen, nicht funktionieren oder nicht funktioniert haben.

8. Wann kann ein Impfstoffauftrag als verhältnismäßig angesehen werden?

Ein Eingriff ist verhältnismäßig, wenn die Bedeutung des verfolgten legitimen Ziels und die Schwere des Eingriffs in die Rechte der Menschen in einem angemessenen Verhältnis zueinander stehen. Selbst wenn nachgewiesen würde, dass eine Impfpflicht der einzige Weg ist, um eine Herdenimmunität gegen eine bestimmte Krankheit zu erreichen, müsste eine Regierung nachweisen, dass die Vorteile der Herdenimmunität gegen diese bestimmte Krankheit gegenüber dem Eingriff in die Rechte der Menschen überwiegen. Wenn die betreffende Krankheit beispielsweise nur eine minimale Bedrohung für Leben und Gesundheit darstellt, wären die durch ein Impfmandat verursachten Eingriffe in die Rechte der Menschen nicht gerechtfertigt. Wenn jedoch die Krankheit das Leben oder die (langfristige) Gesundheit vieler Menschen gefährdet, kann eine solche Maßnahme gerechtfertigt sein.

9. Ist es gerechtfertigt, Impfungen nur für Angehörige bestimmter Gruppen vorzuschreiben und nicht für alle? Ist das nicht diskriminierend?

Einige Mitgliedstaaten überlegen, ob sie nicht eine allgemeine Impfpflicht, sondern eine berufs- oder altersspezifische Impfpflicht einführen sollen (oder haben diese bereits eingeführt). Liberties ist der Meinung, dass solche Maßnahmen unter bestimmten Umständen gerechtfertigt sein können.

Wenn eine Regierung nachweisen kann, dass es für die Ausübung einer bestimmten Tätigkeit unerlässlich ist, dass eine Person geimpft ist, um die öffentliche Gesundheit zu schützen (etwa bei Menschen, die im Gesundheitswesen arbeiten), dann ist es gerechtfertigt, dies zur Bedingung für eine Beschäftigung zu machen.

Was ein altersspezifisches Impfmandat betrifft, so ist die Antwort auf die obige Frage weniger eindeutig. Wenn beispielsweise nachgewiesen werden kann, dass ungeimpfte Angehörige einer bestimmten Altersgruppe ein deutlich höheres Risiko haben, auf der Intensivstation zu landen, als andere Mitglieder der Gesellschaft, und dass die Impfung dieser Gruppe die reale Gefahr eines Zusammenbruchs des Gesundheitssystems abwenden könnte, ließe sich ein altersspezifisches Mandat unter Umständen rechtfertigen. Es ist jedoch nicht zu rechtfertigen, dass Regierungen Impfungen für Angehörige einer bestimmten Altersgruppe vorschreiben, nur um die Angehörigen dieser Altersgruppe vor den Folgen ihrer eigenen Entscheidung, sich nicht impfen zu lassen, zu schützen. (Das gilt natürlich nur für Erwachsene.)

10. Lassen die Menschenrechtsvorschriften Ausnahmen von der Impfpflicht aus religiösen Gründen zu?

Artikel 9 der Europäischen Menschenrechtskonvention schützt die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit. Die einschlägige Rechtsprechung deutet jedoch darauf hin, dass eine Impfpflicht keinen Verstoß gegen Artikel 9 darstellt. Denn in früheren Urteilen wurde festgestellt, dass die Impfpflicht nicht gegen zentrale Aspekte der religiösen Überzeugungen verstößt. Nach der einschlägigen Rechtsprechung schützt Artikel 9 nicht jede beliebige Handlung, die durch eine Religion motiviert oder beeinflusst ist, sondern nur solche, die für den Ausdruck einer Religion von zentraler Bedeutung sind.

11. Sollte es Ausnahmen für Menschen geben, die aus gesundheitlichen Gründen nicht geimpft werden können?

Obligatorische Impfungen zur Erreichung der Herdenimmunität können nur dann sinnvoll sein, wenn die Impfungen so gestaltet sind, dass es genügend Menschen gibt, für die es sicher ist, geimpft zu werden. In einem solchen Fall ist es sicherlich nicht gerechtfertigt, z. B. Geldstrafen gegen diejenigen zu verhängen, die aus medizinischen Gründen nicht geimpft werden können.

12. Was ist, wenn jemand der Meinung ist, dass die für ihn geltende Impfpflicht unter den gegebenen Umständen nicht gerechtfertigt ist?

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In jedem Mitgliedstaat gibt es unterschiedliche Verfahren für die Anfechtung von Gesetzen. Wir empfehlen den Bürgern, sich in solchen Fällen an die örtlichen Rechtsberatungsstellen zu wenden, um sich über die ihnen zur Verfügung stehenden Möglichkeiten zu informieren. Damit ein Fall vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gebracht werden kann, müssen zunächst alle verfügbaren innerstaatlichen Rechtsmittel ausgeschöpft worden sein. Sie können auch von ihrem Recht auf (friedlichen) Protest und freie Meinungsäußerung Gebrauch machen, um den Behörden ihre Bedenken mitzuteilen.

13. Was sollte die EU tun, um Menschenrechte und öffentliche Gesundheit besser zu schützen? Was kann eine Menschenrechtsorganisation, die - wie die Civil Liberties Union for Europe - auf EU-Ebene arbeitet, tun?

Die Informationen, die die Bürger über soziale Medien erhalten, haben einen großen Einfluss auf ihre Bereitschaft, sich impfen zu lassen. Leider ist die Verbreitung von Desinformationen, auch über den Impfstoff, Teil eines profitablen Geschäftsmodells für Social-Media-Unternehmen. Die EU könnte dem Einhalt gebieten, indem sie die bereits bestehenden Vorschriften konsequent durchsetzt und gegebenenfalls neue Gesetze ausarbeitet.

Die Civil Liberties Union for Europe hat zusammen mit EDRi und Access Now vor kurzem ein Papier veröffentlicht, in dem die Schritte dargelegt werden, die die EU unternehmen sollte, um gegen Desinformation vorzugehen und gleichzeitig die Rede-, Gedanken- und Informationsfreiheit zu schützen. Wir planen, in absehbarer Zukunft weiter an diesem Thema zu arbeiten.

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