Europäische Kommission: Es muss eine schnelle Reaktion auf die Angriffe gegen grundlegende Werte der Europäischen Union in Spanien geben

Menschenrechte, Gerechtigkeit und Rechtsstaatlichkeit sind Grundwerte der Europäischen Gemeinschaft. Die Regierung Spaniens betreibt eine Reihe von Justizreformen, die diese Werte erheblich untergraben. Fordern Sie die Kommission auf, einzuschreiten.

by Rights International Spain

Systemische Bedrohung des Prinzips der Rechtsstaatlichkeit in Spanien

Ein Effekt der Finanzkrise war, dass immer mehr Bürger von ihrem Versammlungsrecht Gebrauch machen. Die Öffentlichkeit hat immer wieder auf dieses Grundrecht zurückgegriffen, um sich für oder gegen bestimmte Reformvorschläge zu engagieren. Es gab Demonstrationen gegen: Austeritätspolitik, etwa Einsparungen im Gesundheitswesen oder im Bildungsbereich, gegen Enteignung von Wohnungen und Häusern durch Banken und gegen den Verkauf toxischer Finanzprodukte. Es wurde gegen Korruption in der Politik oder gegen Versuche, das Abtreibungsrecht zu reformieren protestiert. Seit Beginn der Finanzkrise 2008 hat die Zahl der Demonstrationen um 283% zugenommen.

Mit Demonstrationen wurde mehr Transparenz und öffentliche Beteiligung im politischen Entscheidungsprozess eingefordert. Einschränkungen des Rechts auf freie Meinungsäußerung und des Versammlungsrechts wurden abgelehnt und zum teil auch abgewendet. Diese öffentlichen Proteste fanden unter anderem vor Regierungsgebäuden, den Residenzen von Regierungsvertretern und vor Banken statt, aber auch in Privatwohnungen, wenn es Zwangsräumungen zu verhindern galt. Zunächst versuchte die Regierung die Öffentlichkeit durch Kriminalisierung und Verhängung von Bußgeldern vom friedlichen Protest abzubringen. Diese Versuche wurden jedoch immer häufiger erfolgreich durch Klagen einzelner vor den Gerichten abgewehrt.

Die Finanzkrise hat auch dazu geführt, dass mehr Menschen auf Gerichte zurückgreifen, um andere Rechte zu verteidigen. Zum Beispiel das Recht auf Wohlstand, wenn sie versuchten, Ersparnisse zu retten, die toxischen Finanzprodukten zum Opfer gefallen waren. Die Anzahl der Anträge auf Prozesskostenbeihilfe hat in den letzten Jahren stark zugenommen. Die Regierung hat darauf reagiert, indem sie den Klageweg für Einzelpersonen, die ihre Rechte gegen die öffentliche Hand oder große Konzerne durchzusetzen versuchen, erschwert hat. Neue Gesetze zielen darauf ab, die Judikative zu schwächen, indem ihre Wirkung und ihre Unabhängigkeit eingeschränkt werden. Auch der Zugang zu den Gerichten soll für Einzelpersonen durch neue finanzielle Barrieren erschwert werden. Einschränkungen bei der Prozesskostenhilfe sollen bewirken, dass immer weniger Menschen von dieser essenziellen öffentlichen Leistung profitieren können.

Einige dieser neuen Gesetze wurden bereits eingeführt, über andere wird noch verhandelt. Zusammengenommen,

ist dieses Maßnahmenpaket eine ernsthafte Bedrohung für das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit.

Ein vorgeschlagenes Gesetz über die Rechtsbeihilfe verwehrt Einzelpersonen den Zugang zum Rechtssystem, indem es den Zugang zu Rechtsbeihilfe stark einschränkt.

Die in dem vorgeschlagenen Gesetz enthaltenen Schwellen führen dazu, dass ein erheblicher Teil der Bevölkerung es sich nicht mehr leisten können wird, vor Gericht seine Rechte zu verteidigen. Ein eindeutiger Indikator für das mangelnde Interesse Spaniens, seinen Bürgern Zugang zum Rechtsweg zu gewähren, ist die Höhe der Ausgaben für die Rechtsbeihilfe. Spanien gibt in diesem Bereich etwa € 0,80 pro Einwohner aus, während der Europäische Durchschnitt dafür mit € 8,63 mehr als zehnmal so hoch liegt. In den letzten Jahren hatten zwischen 25% und 35% der Bürger Spaniens keinen Zugang zum Rechtssystem.

Ein Erlass über die Gerichtskosten aus dem Jahre 2012 ist insofern diskriminierend, als er einen unverhältnismäßig höheren Einfluss auf kleinere Unternehmen als auf Große Konzerne wie etwa Banken und Versicherungsgesellschaften hat.

Halbherzige Reformen an dem ursprünglichen Erlass haben dieses Jahr nicht dazu beigetragen, die Probleme zu lösen. Einzelpersonen, die zwischen Dezember 2012 und Februar 2015 Gerichtsgebühren bezahlt haben, um ihre Rechte zu verteidigen, werden nicht entschädigt. Dasselbe gilt für diejenigen, welche Fristen verpasst haben weil sie sich die Gerichtsgebühren nicht leisten konnten. Das durch die Gerichtsgebühren eingenommene Geld (ungefähr 540 Millionen Euro) wurde nicht dem Ausbau des Rechtssystems zugeführt und steht erst recht nicht der Rechtsbeihilfe zur Verfügung.

Das Rechtssystem ist überlastet und unterbesetzt. Dadurch kommt es zu langen Verzögerungen im Verhandlungsverlauf, was den Zugang zum Rechtsystem noch weiter erschwert.

Die Regierung hat Reformen der Strafprozessordnung und des Organisationsgesetzes der Justiz vorgeschlagen, um den Mangel an Ressourcen zu beheben. Die vorgeschlagenen Maßnahmen sind jedoch zu limitiert und Bruchstückhaft. Über die Bereitstellung ausreichender personeller und finanzieller Ressourcen hinaus sind umfassende Reformen notwendig, um die Judikative Spaniens umzustrukturieren und zu modernisieren. Tatsächlich fiel das dem Justizwesen zugewiesene Budget zwischen 2010 und 2012 dramatisch, nämlich von etwa 90 Euro auf weniger als 30 Euro pro Kopf. Damit gehört es zu den niedrigsten in Europa. Der Justizhaushalt schrumpfte weiter, nämlich um 4,21% in 2013 und um 2,13% in 2014. Spanien gehört zu den Ländern mit der geringsten Zahl an Richtern pro Einwohner (etwa 10 auf 100.000 Einwohner). Hinzu kommt, dass auch die Unabhängigkeit der Gerichte allgemein in Frage gestellt wird.

Der Mangel an Ressourcen schwächt auch die Kapazität der Judikative, die Kräfte von Exekutive und Legislative auszugleichen. Eine Reform des Gesetzes über den Allgemeinen Rat der Justiz (Ley del Consejo General del Poder Judicial) von 2013 bedroht, zusammen mit der in Spanien weitverbreiteten Praxis der politischen Einflussnahme auf Gerichtsentscheide, die Unabhängigkeit der Justiz noch mehr.

Das vor kurzem in Kraft getretene Gesetz über den Schutz der öffentlichen Sicherheit (Ley Orgánica de Protección de la Seguridad Ciudadana) und das Strafgesetz beinhalten derart weit gefasste und vage formulierte Bestimmungen, dass der übertrieben ausgedehnte Ermessensspielraum der Behörden, einer ungerechten Anwendung administrativer Maßnahmen Vorschub leisten muss. Diese Gesetze bedrohen die Versammlungsfreiheit und das Recht auf freie Meinungsäußerung und damit zwei grundlegende Stützen von Demokratie und pluralistischer Gesellschaft. Mehrere UN-Sonderberichterstatter haben bereits den Verdacht geäußert, dass diese Reformen, welche fundamentale Rechte und Freiheiten zu verletzen drohen, eine Reaktion des spanischen Staates auf die zahlreichen Demonstrationen, zu denen es in Spanien in den letzten Jahren gekommen ist , sein könnten.

Der Prozess durch den das Reformpaket eingeführt wird steht selbst im Konflikt mit einem weiteren, dem Prinzip der Rechtsstaatlichkeit zugrunde liegenden, Wert, nämlich einem transparenten, verantwortlichen, demokratischen und pluralistischen Gesetzgebungsverfahren. Die Regierung war weder zu angemessenen Konsultationen mit den Interessenvertretern der Zivilgesellschaft und Experten für Menschenrechte bereit, noch wurden deren Ansichten bei dem Verfahren berücksichtigt. Viele der oben beschriebenen Reformen sind in überaus vage und in weit gefassten Begriffen formuliert und untergraben somit das Legalitätsprinzip.

Der neue EU-Rahmen zur Stärkung der Rechtssicherheit

Menschenrechte, Gerechtigkeit und Rechtssicherheit sind unauflöslich miteinander verbunden und bilden Grundwerte, auf denen die EU basiert. Diese Werte zu verteidigen ist die Pflicht jedes Mitgliedsstaates der EU. Jeder Angriff auf diese Werte untergräbt das Vertrauensverhältnis der Mitglieder untereinander und schadet dem Vertrauen der Bürger gegenüber ihren nationale Regierungen sowie gegenüber der Union. Beides ist aber für ein Funktionieren der EU unabdingbar. Die Europäische Kommission hat bestätigt, dass es "in Fällen, in denen die auf nationaler Ebene etablierten Mechanismen zur Sicherstellung der Rechtsstaatlichkeit aufhören zuverlässig zu funktionieren, [...] eine systemische Bedrohung des Prinzips der Rechtsstaatlichkeit und somit des Funktionierens der EU als Ganzes gibt. Dann muss die EU einschreiten, um das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit als gemeinsamen Wert der Union zu verteidigen.

Genau dafür hat die Kommission einen neuen EU-Rahmen zum Schutz der Rechtssicherheit gegen systemische Bedrohungen verfasst. Dieses neue Rahmenwerk ergänzt andere bereits bestehende Mechanismen und versucht "die Kommission in die Lage zu versetzen, gemeinsam mit dem betreffenden Mitgliedsstaat eine Lösung zu finden, bevor das Aufkommen einer systemischen Bedrohung des Prinzips der Rechtsstaatlichkeit (...) zu einer ernsten Gefahr eines Bruchs von Artikel 7 des EU-Vertrags werden könnte.

Die grundlegenden Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit, die in der EU-Rahmenrichtlinie zur Stärkung der Rechtssicherheit genannt werden, beinhalten:

(1) Zugang zum Rechtssystem sowie unabhängige und effektive Berufungsmöglichkeiten;

(2) Die Abwesenheit von Diskriminierung und Gleichheit vor dem Gesetz.

(3) Gewaltenteilung und Unabhängigkeit der Gerichte.

(4) Rechtssicherheit und Respektierung der Menschenrechte.

(5) Ein transparentes, verantwortliches, demokratisches und pluralistisches Gesetzgebungsverfahren.

Grundlegende EU Prinzipien und Werte der Union sind in Spanien bedroht. Erheben Sie Ihre Stimme und fordern Sie die Europäische Kommission auf, unverzüglich tätig zu werden, um die Situation in Spanien genaustens zu untersuchen und anhand ihres Rahmenwerkes über den Schutz der Rechtssicherheit zu bewerten.

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