Am 14. Mai musste sich das Europäische Parlament erneut mit der Rechtsstaatlichkeit in Ungarn befassen. Auslöser für die Debatte war diesmal der erfolgreiche Vorstoß der ungarischen Regierung, während der Coronavirus-Pandemie ohne zeitliche Begrenzung per Dekret zu regieren. Auch Viktor Orbán wurde bei der Plenardebatte in Brüssel erwartet. Er behauptete jedoch, er sei zu sehr mit der Bekämpfung der Pandemie beschäftigt, um zu erscheinen und ließ sich bei der Sitzung von seiner Justizministerin Judit Varga vertreten. Die Geschäftsordnung des Parlaments der Europäischen Union erlaubte es Varga jedoch nicht, bei der Sitzung zu sprechen. Statt dessen stellte sie die Rede, die sie im EP halten wollte, der ungarischen Öffentlichkeit zur Verfügung. Darin behauptete sie zum Beispiel, dass die außerordentlichen Maßnahmen der ungarischen Regierung "die Aktivitäten der Medien nicht einschränken und die Meinungsfreiheit nicht beeinträchtigen".
Zwei Personen verhaftet
Kurz bevor die Ministerin ihre Rede halten wollte, hatte die Polizei einen Oppositionsaktivisten in einer Kleinstadt und einen auf dem Land lebenden Rentner festgenommen, weil diese ihre Meinung auf Facebook veröffentlicht hatten. Der Aktivist János Csóka-Szűcs wurde für einen Beitrag angezeigt, in dem er sagte, dass in Gyula, seinem Wohnort, 1.170 Krankenhausbetten für Coronavirus-Patienten frei gemacht worden seien. András Kusinszki wurde dafür zur Rechenschaft gezogen, dass er nur einen Tag nach dem erwarteten Höhepunkt der Pandemie seine Meinung zur Lockerung der Ausgangssperre geäußert hatte.
Csóka-Szűcs und Kusinszki wurde vorgeworfen, Fake News zu verbreiten. Die regierungsfreundliche Mehrheit im ungarischen Parlament änderte den Straftatbestand der Verbreitung von Falschmeldungen genau in jenem Gesetz, welches der Regierung von Viktor Orbán eine beispiellose Autorität verlieh. Das Gesetz wurde dahingehende verschärft, dass jetzt bereits die "Entstellung" einer Tatsache genügt, um den Straftatbestand der Verbreitung von Falschmeldungen zu erfüllen, wenn dies "einen wirksamen Schutz beeinträchtigen kann".
Es wurde davon ausgegangen, dass das Gesetz zur Kontrolle von Medien und Journalisten dienen würde, nicht aber von Einzelpersonen, die in sozialen Medien posten.
Noch bevor das Gesetzes verabschiedet wurde, warnte die HCLU vor dem zu erwartenden abschreckenden Effekt, den es auf die freie Meinungsäußerung haben werde. Die Organisation erwartete, dass es gegen Journalisten, die kritisch über die Pandemie-Maßnahmen der Regierung berichtenan, gewandt würde. Für diese Vermutung schienen mehrere Fakten zu sprechen: Staatliche Stellen nahmen der Presse die Möglichkeit, Beamte direkt zu befragen, das öffentliche Fernsehen startete ein neues Programm, in dem die kritische Berichterstattung der unabhängigen Medien als Fake News bezeichnet wurde, und von der Regierung kontrollierte Medien behaupteten, Knebel seien notwendig, um bestimmte Teile der Presse zum Schweigen zu bringen.
Dieses Mal waren es jedoch zwei Bürger, die ihre Meinung in den sozialen Medien veröffentlicht hatten, denen die Polizei ins Haus kam. Obwohl das Verfahren gegen sie eingestellt wurde und die Staatsanwaltschaft sogar erklärte, sie hätten kein Verbrechen begangen, können diese Fälle viele Internetnutzer davon abhalten, ihre Meinung frei zu äußern. Zum Beispiel, weil sie keine Lust haben, um sechs Uhr morgens von der Polizei besucht zu werden und sich von Polizeibeamten die Wohnung durchsuchen und festnehmen zu lassen, die die ganze Aktion auch noch auf Video aufnehmen und als Trophäe auf ihrer Webseite veröffentlichen könnten, denn genau ist András Kusinszki passiert.
Es wurde keine Anklage erhoben, aber den Zweck der Einschüchterung von Menschen, die vor haben ihre Meinung zu veröffentlichen, hat das Vorgehen dennoch erfüllt.
Tatsächlich bestand keine Notwendigkeit, strengere Regeln für die Verbreitung von "Fake News" einzuführen, da die bisherigen Regeln ausreichend wirksam sind, um Menschen zur Rechenschaft zu ziehen, wenn sie in böser Absicht Falschmeldungen verbreiten. Der Wortlaut der neuen Regel ist vage, und die Polizei hat sie auch noch falsch angewandt. Dies lässt die Menschen im Unklaren darüber, welche Art von Verhalten ihnen einen Besuch der Polizei einhandeln könnte.
Die Redefreiheit kann nicht nur durch direkte Zensur beeinträchtigt werden, sondern auch dann, wenn Bürger Angst haben, ihre Meinung zu äußern. Jede Gesetzgebung, die eine solche Wirkung hat, schränkt die Redefreiheit ein, was Grund genug für das Verfassungsgericht sei sollte, sie aufzuheben.
Auf der anderen Seite war eine weitere Folge der Verhaftungen von András Kusinszki und János Csóka-Szűcs, dass ihre Meinungen auf diese Weise viel mehr Menschen erreichten; ihre Fälle haben die Aufmerksamkeit darauf gelenkt, wie kritische Meinungen durch Maßnahmen, welche die Regierung unter dem Vorwand der Pandemiebekämpfung ergriffen hat, zum Schweigen gebracht werden.