Demokratie & Gerechtigkeit

Kommentar: Andauernde Rückschritte bei der Rechtsstaatlichkeit schwächen unsere Demokratien in der EU

Trotz ihrer Bedeutung für eine freie und demokratische Gesellschaft verschlechtert sich die Lage der Rechtsstaatlichkeit überall in der EU. Liberties' aktueller Rule of Law Report 2024 zeigt das Problem auch in traditionell starken Demokratien.

by Eleanor Brooks & Jonathan Day

Wir erwarten von unseren Staatsoberhäuptern, dass sie sich unsere Standpunkte anhören und, dass sie sich genauso an Regeln halten wie alle anderen auch. Darum geht es bei der Rechtsstaatlichkeit und sie ist das Fundament unserer Demokratien.

Aber in der Kombination aus sinkenden demokratischen Standards und der Aussicht, dass rechtsextreme Parteien in Europa an die Regierung kommen, zeigt sich bereits eine Tendenz, die droht, dieses demokratische Fundament zu schwächen. Wie der Liberties-Rechtsstaatlichkeitsbericht 2024 zeigt, wurden in allen Teilen der EU Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit festgestellt. Es ist noch nicht zu spät, diesen Trend umzukehren, aber die EU muss dringend handeln, bevor sich der Verfall der Rechtsstaatlichkeit verfestigt.

Der Gesamteindruck ist wenig überzeugend

Es gibt einen übergreifenden Trend, der in Liberties' Rule of Law Report 2024 deutlich wird, nämlich dass sich Regierungen der demokratischen Kontrolle entziehen und die Demokratie in den verschiedenen Ländern unterschiedlich stark bedrohen.

In etablierten Demokratien wie Belgien, Frankreich, Deutschland und den Niederlanden handelte es sich in der Regel um Verstöße, die keine existenzielle Bedrohung für die Demokratie darstellten. Die Behörden in diesen Ländern können zum Beispiel Klimaaktivisten immer wieder einschränken oder inhaftieren oder Überwachungstechnologien bei Protesten einsetzen. Aber keine dieser Regierungen hat Gesetze umgeschrieben oder ist offen gegen das System der Gewaltenteilung vorgegangen.

In Ländern, die weniger resistent gegen demokratische Rückschritte sind, wie z. B. Griechenland, besteht die Gefahr, dass sich die Anhäufung anhaltender Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit in verschiedenen Bereichen zu einem systemischen Problem auswächst. Die Situation in Italien wird immer besorgniserregender, da dort in fast allen Bereichen, außer bei der Korruptionsbekämpfung, negative Entwicklungen zu beobachten sind. Machen diese Länder so weiter, wird die Rechtsstaatlichkeit - das Fundament der freien Demokratie - bald bröckeln.

Das ist in Ungarn bereits der Fall, wo die Regierungspartei weiterhin absichtlich demokratische Strukturen und die Rechtsstaatlichkeit demontiert, um ihre Macht zu festigen. Im Jahr 2023 hat sich wenig geändert und es ist noch zu früh, um zu sagen, ob die Reformen, die angestoßen wurden, um EU-Gelder freizugeben, den Demokratieabbau tatsächlich umkehren können. Auch in der Slowakei hat die neue Regierung bereits Gesetze im Schnellverfahren auf den Weg gebracht, eine wichtige Strafverfolgungsbehörde abgeschafft und die Finanzierung der öffentlich-rechtlichen Medien gekürzt.

Kleine Verstöße können endemisch - und unumkehrbar - werden

In den fünf Jahren, seit Liberties unser jährliches Rechtsstaatlichkeitsmonitoring durchführt, haben wir den stetigen Abwärtstrend der Demokratie in Europa beobachten müssen.

Dieser Trend ist darauf zurückzuführen, dass Regierungen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit bewusst missachten, und zwar auch in Ländern mit einer starken demokratischen Tradition. Zu den besonders dreisten Beispielen gehören der Missbrauch von Notstandsmaßnahmen, um unpopuläre Gesetze durchzusetzen, wie bei der Verabschiedung der Rentenreform in Frankreich, oder die Weigerung Belgiens, eindeutige Entscheidungen der Gerichte in Asyl- und Grenzkontrollfällen zu respektieren.

Diese scheinbar kleinen, isolierten Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit zielen meist darauf ab, ein bestimmtes Ergebnis zu erreichen, und nicht darauf, die demokratischen Strukturen als solche zu untergraben. Dennoch zeigen sie die Bereitschaft der Regierungen, sich selektiv der demokratischen Kontrolle zu entziehen. Dies mag die demokratische Stabilität nicht unmittelbar bedrohen, aber indem auf Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit durch wohlmeinende Regierungen nicht reagiert wird, normalisieren sie diese und das macht es so gut wie unmöglich, den Trend rückgängig zu machen, sollte eine extremistische Regierung die Macht übernehmen.

Eine solche Entwicklung können wir bereits in Schweden beobachten. Im Jahr 2021 wurden schwerwiegende Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit nur in Bezug auf die Medienfreiheit gemeldet; seit 2022 ist eine rechtsgerichtete Regierung an der Macht und wir beobachten nun Verstöße gegen die Gewaltenteilung, das Justizsystem, die Medienfreiheit, den zivilen Raum und den Schutz der Menschenrechte - einzig bei der Korruptionsbekämpfung ist die Situation nicht rückläufig.

Die neue Regierung in Polen kämpft gerade mit den Konsequenzen solcher über die Jahre endemisch gewordenen "kleinen" Verstößen. Die Koalition von Donald Tusk hat versprochen, die Rückschritte bei der Rechtsstaatlichkeit zu korrigieren, die für ihre Vorgängerregierung geradezu stilprägend waren, aber es gibt Befürchtungen, dass der Schaden nicht so einfach wieder rückgängig gemacht werden kann, ohne dabei selbst die Rechtsstaatlichkeit zu verletzen. Es erfordert einen langwierigen Prozess, für den einen umfassenden Aktionsplan.

Die EU darf nicht untätig bleiben

So weit wie in Polen muss es aber nicht kommen. Die EU verfügt bereits über eine Reihe von Instrumenten zum Schutz der Rechtsstaatlichkeit und sollte sie bereitwillig anwenden. Liberties hat mit Freude zur Kenntnis genommen, dass der Mechanismus der Rechtsstaatskonditionalität, der sich an einem von uns entwickelten Vorschlag orientiert, gegen Ungarn eingesetzt wurde. Die EU sollte die Einleitung von systematischen Vertragsverletzungsverfahren in Erwägung ziehen, wenn mehrere Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit vorliegen, ein beschleunigtes Verfahren anwenden und vorläufige Maßnahmen einfordern.

Außerdem muss die Kommission die Bemühungen der Mitgliedsstaaten zur Einhaltung der EU-Vorschriften streng überwachen. Der European Media Freedom Act, die Anti-SLAPP-Richtlinie und der AI Act sind die jüngsten EU-Rechtsvorschriften, die zwar noch lange nicht perfekt sind, aber dennoch dazu beitragen können, die Rechtsstaatlichkeit in den Mitgliedstaaten zu verbessern und die dazu geeignet sind, zu verhindern, dass einzelne Rechtsstaatsverletzungen zu systemischen Missständen werden.

Ein Teil dessen, was die Demokratie so schön macht, ist, dass sie nur dann gedeihen kann, wenn sich die Regierenden an dieselben Regeln halten wie alle anderen. Das macht sie anfällig für schlechte Akteure, aber diese inhärente Schwäche ist auch ihre größte Stärke. Eine robuste Rechtsstaatlichkeit schützt die Schwächen der Demokratie davor, ausgenutzt zu werden, und bewahrt gleichzeitig ihren wesentlichen demokratischen Charakter.


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