Am 1. Dezember, nachdem alle designierten Kommissarinnen und Kommissare im Europäischen Parlament angehört und bestätigt worden waren, trat die neue Europäische Kommission ihr Amt an. Die Zustimmung für das neue Team fiel jedoch mit nur 54 Prozent aller Stimmen knapper aus als je zuvor.
Angesichts der zunehmenden Fragmentierung, des weiteren Rückgangs der Rechtsstaatlichkeit und der enormen außenpolitischen Herausforderungen stehen Die Kommissarinnen und Kommissare vor schwierigen Entscheidungen. Die EU braucht einen starken, auf Rechte ausgerichteten Plan, doch die Prioritäten der Kommission betonen eine „schnellere, einfachere und geeintere Union – eine Union, die ihre Menschen und Unternehmen unterstützt“. Dieser wirtschaftsorientierte Fokus lässt erwarten, dass Rechte und Werte an den Rand gedrängt werden.
Rechte und Werte verlieren an Priorität
Zum ersten Mal seit 2014 gibt es kein Portfolio für Rechte und Werte. Während der Amtszeit der vorherigen Kommission war Vizepräsidentin Jourová für Werte und Transparenz zuständig und konnte durch ihre Position als Vizepräsidentin deren Bedeutung stärken. Ab 2014 war Kommissar Timmermans für bessere Rechtsetzung, interinstitutionelle Beziehungen, Rechtsstaatlichkeit und die Charta der Grundrechte zuständig.
Beide Positionen bestanden zusätzlich zu der des Kommissars für Justiz, und gemeinsam gelang es ihnen trotz erheblicher Defizite, das Instrumentarium für Grundrechte aufzubauen und weiterzuentwickeln – insbesondere indem sie das erste auf Rechten basierende Vertragsverletzungsverfahren einleiteten und durch den Mechanismus zur Wahrung der Rechtsstaatlichkeit einführten.
Grundrechte zersprengt
Das Ressort für Grundrechte ist nun auf mehrere Kommissare aufgeteilt, wobei der Löwenanteil auf den Kommissar für Demokratie, Justiz und Rechtsstaatlichkeit entfällt, der von Kommissar McGrath geleitet wird. In einer potenziell komplizierten Struktur fällt das Portfolio für Gleichstellung, das zuvor von einem einzigen Kommissar verwaltet wurde, nun in den Zuständigkeitsbereich des Kommissars für Vorsorge, Krisenmanagement und Gleichstellung. Beide Kommissare unterstehen jedoch unterschiedlichen Vizepräsidenten. Der Bereich Transparenz fällt in den Zuständigkeitsbereich des Handelskommissars und der Bereich Demokratie wiederum in den des Vizepräsidenten für technische Souveränität, Sicherheit und Demokratie. Diese komplexe Struktur birgt die Gefahr eines diffusen Ansatzes, bei dem Probleme zwischen verschiedenen Portfolios aufgeteilt werden und eine klare Führung und Aufsicht fehlt.
Neuer Kommissar, neue Instrumente
Kein Land schien darauf erpicht, eine Kommissarin oder einen Kommissar mit juristischem Hintergrund für das Ressort Justiz und Rechtsstaatlichkeit zu nominieren. Kommissar McGrath konnte bei seiner Anhörung überzeugen und machte auf Nachfrage deutlich, dass er nicht zögern werde, bei Rückschritten in Bezug auf die Rechtsstaatlichkeit einzuschreiten. Er sagte, er werde bestehende Instrumente nutzen, aber auch neue in Betracht ziehen. In seinem Mandatsschreiben wird er ausdrücklich aufgefordert, sich für die Stärkung des Schutzes der Zivilgesellschaft, sowie von Aktivist*innen und Menschenrechtsverteidigern bei ihrer Arbeit einzusetzen, womit er eine Forderung aufgreift, die von der Zivilgesellschaft seit Jahren erhoben wird.
Am letzten Arbeitstag der vorherigen Kommission wurde der Rechtsstaatlichkeitszyklus 2025 (2025 rule of law cycle) eingeleitet. Dabei wurde der Zusammenhang zwischen Rechtsstaatlichkeit und Binnenmarkt neu betont und die finanziellen Konsequenzen im Zusammenhang mit Empfehlungen weiterentwickelt. Ansonsten bleiben der Zeitplan, die Struktur und der Schwerpunkt unverändert. Das macht es notwendig, die Fortschritte und Herausforderungen des Zyklus – der sich nun im sechsten Jahr befindet – zu evaluieren und zu überlegen, wie die Berichte zielgerichteter gestaltet werden können, mit klaren Konsequenzen für anhaltende Verstöße.
Vor uns liegt eine Testphase
Die Jahre 2024–2029 werden ein Test, in dem eine starke und prinzipientreue Führung gefragt ist. Wenn nicht Unternehmungen der EU von Rechten und Werten geleitet werden, riskieren wir, die Grundprinzipien der Union zu untergraben und damit den stärker polarisierenden Ansichten Glaubwürdigkeit zu verleihen, die letztlich den Menschen in der gesamten Region schaden.
Liberties wird genau hinschauen
Wir von Liberties werden diese Entwicklungen, wie viele andere Pro-Demokratie- und Bürgerrechtsgruppen auch, genau verfolgen. Dazu gehört auch, dass wir auf die Einführung von Instrumenten, wie sie vom neuen Kommissar versprochen wurden, und die ordnungsgemäße und rechtzeitige Nutzung bestehender Instrumente achten. Das von Liberties koordinierte EU-weite Netzwerk beteiligt sich auch aktiv an der kürzlich eingeleiteten Konsultation, und unser detaillierter Bericht über die Rechtsstaatlichkeit (rule of law report) – der sechste in einer jährlich erscheinenden Reihe – wird im März veröffentlicht, einige Monate später folgt mit der Gap Analysis unsere Lückenanalyse.
Schaut öfters bei uns vorbei um mehr darüber zu erfahren.
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