EU-Beobachtung

Regierungen entziehen sich der demokratischen Kontrolle: EU-Rechtsstaatlichkeitsbericht von 37 NGOs

Liberties Rechtsstaatlichkeitsbericht 2024

by Eleanor Brooks

2023 mussten viele von uns mit Sorge beobachten, wie unsere Gesellschaft immer gespaltener und ungleicher wird. Wir misstrauen vielen der Entscheidungen, die die Regierung in unserem Namen trifft, z. B. wie sie mit Migranten und Flüchtlingen umgeht, auf die Klimakrise reagiert oder globale Konflikte angeht. Wir sollten uns abewr darauf verlassen können, dass Politiker*innen als gewählte Vertreter*innen die Macht und die Ressourcen ihres Amtes nutzen, um sich für unsere Anliegen einzusetzen.

Die Stärke der Demokratie wird nicht durch das Ergebnis von Regierungsentscheidungen bestimmt, sondern durch das demokratische Umfeld, in dem die Entscheidungen getroffen werden. Der fünfte Jahresbericht von Liberties zur Rechtsstaatlichkeit bewertet, ob Regierungen die rechtsstaatlichen Strukturen - wie unabhängige Medien, freie Gerichte und Bürgerrechtsgruppen - respektieren, und zwar auch dann, wenn sie selbst von diesen sie zur Verantwortung gezogen werden. Unser Report ist der ausführlichste "Schattenbericht" eines unabhängigen Netzwerks für Bürgerrechte und behandelt 19 Mitgliedstaaten. Er zeigt europaweite Trends auf und gibt der EU Empfehlungen, die dazu beitragen sollen, Abwärtstrend der Demokratie umzukehren.

In unserem Rechtsstaatlichkeitsbericht 2024 benennen unsere Mitgliedsorganisationen drei übergreifende Trends, mit denen ihre Regierungen die demokratische Kontrolle fortlaufend schwächen.

Die Öffentlichkeit und die Zivilgesellschaft werden in ihrer Entscheidungsfindung ausgebremst

Einschränkungen friedlicher Proteste haben 2023 stark zugenommen (Bulgarien, Tschechische Republik, Estland, Deutschland, Ungarn und Schweden) - ein Problem, das oft selektiv Pro-Palästina- und Klimaproteste betraf. Der Einsatz von Überwachungstechnologie bei Protesten hielt an (Belgien, Frankreich und die Niederlande) und zivilgesellschaftliche Organisationen und Menschenrechtsverteidiger*innen waren in fast allen beobachteten Ländern weiterhin Angriffen ausgesetzt.


Die Regierungen verabschiedeten weiterhin im Eiltempo Gesetze (Bulgarien, Griechenland, Schweden und die Slowakei), wobei sie die Eingaben von Bürgerinitiativen weitgehend umgingen, wodurch wiederum die Qualität der Gesetze sank. Wenn öffentliche Konsultationen mit der Zivilgesellschaft überhaupt stattfanden, so berichteten unsere Mitglieder, dass diese eher symbolischer Natur waren (Bulgarien, Ungarn, Irland oder Kroatien) oder die Fristen zu kurz waren, um eine relevante Partizipation zu ermöglichen (Deutschland, Slowakei und Slowenien).

Unvollständige Transparenz und willkürlich behinderte öffentliche Kontrolle

Ähnlich wie in den Vorjahren war der Zugang der Öffentlichkeit zu unvoreingenommener und kritischer Berichterstattung durch Einschränkungen der Medienfreiheit erschwert und Politiker versuchten weiterhin, die öffentliche Berichterstattung zu kontrollieren.

In fast allen Ländern, die in dem Bericht behandelt werden, wurden strategische Klagen gegen die Beteiligung der Öffentlichkeit (SLAPPs) eingesetzt, um Journalistinnen und Journalisten zum Schweigen zu bringen, und genauso blieben die Eigentumsverhältnisse im Medienbereich dramatisch konzentriert. Diese Bedrohungen für den Medienpluralismus wurden durch die Bedrohung der Unabhängigkeit der öffentlich-rechtlichen Medien und die undurchsichtige Vergabe staatlicher Werbegelder verschärft, wobei letzteres vor allem in Ungarn und Griechenland der Fall war, wo regierungsfreundliche Medien unverhältnismäßig stark profitierten.

Unseren Mitgliedern zufolge haben die Regierungen die EU-Richtlinie zum Schutz von Informanten wenn überhaupt dann nur halbherzig umgesetzt und auch bem Thema Transparenz der Entscheidungsfindung sind kaum Verbesserungen zu verzeichnen.

Widerstand gegen die Einschränkung der Macht

Die Regierungen vermieden es, sich in ihrer Macht einschränken zu lassen, sei es durch Nachlässigkeit, politische Einmischung oder offenkundigen Widerstand. Unabhängige Behörden, die für eine demokratische Rechenschaftspflicht sorgen, wie z. B. die nationalen Menschenrechtsinstitutionen, erhalten nicht die Mittel, um effektiv zu arbeiten, und die Bemühungen zur Eindämmung der Korruption waren insgesamt dürftig und die Ergebnisse unbefriedigend.

Frankreichs Rentenreformen sind ein dreistes Beispiel für den Missbrauch von Notstandsmaßnahmen, um die parlamentarische Kontrolle zu umgehen. Ein Vorgehen, das aus zahlreichen Ländern berichtet wird.

Immer noch bedroht das Verhalten vieler Regierungen die Unabhängigkeit der Gerichte, dazu zählt die Kontrolle über die Auswahl der Richter und das Verhängen von Disziplinarmaßnahmen. In Belgien und Griechenland weigerten sich die politischen Behörden, rechtskräftige Gerichtsurteile in Asyl- und Grenzkontrollfällen zu befolgen.

Gelegentliche Verstöße können sich zu dauerhaften systemischen Schäden auswachsen

Dies lässt auf einen übergreifenden Trend schließen, dass sich die Regierungen der demokratischen Kontrolle entziehen und die Demokratie in den verschiedenen Mitgliedstaaten in unterschiedlichem Maße bedrohen.

In etablierten Demokratien wie Frankreich, Deutschland und Belgien stellen diese Verstöße keine existenzielle Bedrohung für die Demokratie dar. Dennoch ist es besorgniserregend, dass sich diese Vorfälle verfestigen könnten, wenn extremistische Parteien an die Regierung kommen und so zu einem systemischen Problem werden. Italien und Schweden, wo rechtsextreme Parteien an die Macht gekommen sind, zeigen, dass trotz größerer Immunität auch Länder mit etablierten Demokratien nicht vor dem Verfall der Rechtsstaatlichkeit gefeit sind.

In Ländern, die weniger resistent gegen demokratische Rückschritte sind, wie zum Beispiel Griechenland, besteht die Gefahr, dass die Anhäufung anhaltender Verstöße in verschiedenen Bereichen zu einem systemischen Problem wird, das die Rechtsstaatlichkeit untergräbt. Die hohe Konzentration des Medienbesitzes in Griechenland in Verbindung mit politischer Einmischung ist ein wichtiger Faktor für die schlechte Umsetzung der Antikorruptionsvorschriften.

In Ländern wie Ungarn schließlich bauen Politiker absichtlich demokratische Strukturen ab, um die Rechtsstaatlichkeit auszuhebeln und ihre Macht zu festigen. Diese Strategie, gerade gut am Beispiel der Slowakei zu beobachten, führt zu demokratischen Fäulnis, die bis tief an die Wurzeln reicht und (fast) nicht mehr zu reparieren ist. Obwohl Ungarn auf Druck der EU gesetzliche Verbesserungen vorgenommen hat, sind diese Reformen aufgrund der institutionellen Vereinnahmung weitgehend kosmetisch und haben keine wirklichen Veränderungen bewirkt. Auch in Polen erweist es sich als schwierig, den Schaden rückgängig zu machen und gleichzeitig die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit zu wahren, obwohl sich die gewählte Regierung zur Wiederherstellung demokratischer Werte verpflichtet hat.

Unsere Empfehlungen an die EU

Wenn sich autoritäre Tendenzen erst einmal verfestigt haben, sind sie nur sehr schwer wieder rückgängig zu machen. Der EU steht eine Reihe von Instrumenten zur Verfügung, die sie bereitwilliger nutzen sollte, und zwar noch bevor Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit Wurzeln schlagen. Bei eklatanten und vorsätzlichen Verstößen sollten Vertragsverletzungsverfahren ohne Diskussion eingeleitet werden, einstweilige Maßnahmen beantragt werden und auf mehrfache Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit systematische Vertragsverletzungsverfahren folgen. Die Zivilgesellschaft sollte in ihrer Rolle als Förderer des rechtsstaatlichen Dialogs stärker unterstützt werden.

Der Jahresbericht der Kommission sollte gezielte und spezifische Empfehlungen für die Mitgliedstaaten zur Behebung von Rechtsstaatlichkeitsdefiziten enthalten, die mit Durchsetzungsmaßnahmen verknüpft sind, und wir empfehlen, den zivilen Raum als eigenständiges Thema zu bewerten und die Definition von Menschenrechtsverletzungen auszuweiten.

Über den Bericht

Dies ist unser vierter Jahresbericht über den Stand von Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Grundrechten in der EU. Der Bericht deckt 19 EU-Länder ab und ist die detaillierteste Analyse dieser Art, die von einem NRO-Netzwerk erstellt wurde. Der Bericht wurde von Liberties zusammen mit 37 Organisationen aus ganz Europa erstellt: eine Kombination aus unseren eigenen Mitgliedern und einer Reihe externer Partner. Wie in den vergangenen Jahren hat die Veröffentlichung zwei Ziele: sie dient als Informationsquelle, die wir der Europäischen Kommission für ihre jährliche Prüfung der Rechtsstaatlichkeit in der EU zur Verfügung stellen, und als Quelle für unabhängige Analysen für Journalist*innen, Wissenschaftler*innen und andere, die sich für den Zustand der Demokratie in der EU interessieren.

Ressourcen

Lade den vollständigen Bericht hier herunter.

Weitere Artikel lesen

Trendanalyse: Einschränkungen des Demonstrationsrechts

Trendanalyse: Politische Ernennungen von Richtern gefährden den Schutz der Bürgerrechte

Trendanalyse: Menschenrechtsverletzungen gegen marginalisierte Bevölkerungsgruppen bleiben


Länderberichte 2024

Der Bericht stellt die Ergebnisse von 37 Menschenrechtsorganisationen aus 19 EU-Mitgliedstaaten vor, nämlich:

League of Human Rights (Belgien),

Bulgarian Helsinki Committee (Bulgarien),

Centre for Peace Studies, The Croatian Platform for International Citizen Solidarity (Kroatien),

League of Human Rights, Glopolis (Tschechische Republik),

Human Rights Center (Estland),

Vox Public (Frankreich),

Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF), FragDenStaat, LobbyControl (Deutschland),

The Hungarian Civil Liberties Union (Ungarn),

The Irish Council for Civil Liberties, Inclusion Ireland, Community Law and Mediation, Justice for Shane, Mercy Law Resource Centre, Irish Penal Reform Trust, The National Union of Journalists, Outhouse, Irish Traveller Movement, Mental Health Reform (Irland),

Antigone Association, Italian Coalition for Civil Liberties and Rights (CILD), A Buon Diritto Onlus,Osservatorio Balcani e Caucaso Transeuropa, La Società della Ragione (Italien),

The Latvian Centre for Human Rights (Lettland),

Human Rights Monitoring Institute (Litauen),

NJCM, Netherlands Helsinki Committee, Free Press Unlimited, Transparency International Nederlands (Niederlande),

The Helsinki Foundation for Human Rights (Polen),

Apador-CH (Rumänien),

Via Iuris (Slowakei),

Peace Institute (Slowenien),

Civil Rights Defenders, International Commission of Jurists (Schweden).

Der Griechenland-Bericht wurde von der unabhängigen Expertin Eleni Takou verfasst.


Unsere bisherigenRechtsstaatlichkeitsberichte:

2023 2022 2021 2020

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