Die EU begibt sich auf die Zielgerade der Verhandlungen über den Digital Services Act, der die Arbeitsweise großer Plattformen verändern soll, um die Rechte der Bürgerinnen und Bürger Europas besser zu schützen. Doch wenn bestimmte Vorschläge des Europäischen Parlaments nicht in den endgültigen Text aufgenommen werden, könnte der DSA sein wichtigstes Ziel verfehlen.
Als die Europäische Kommission im Dezember 2020 erstmals den Digital Services Act vorschlug, versprach die Vizepräsidentin der Kommission, Margrethe Vestager, die neue Verordnung würde "Ordnung in das Chaos bringen", denn sie könne die Macht von Big Tech zügeln und neue Garantien zum Schutz der Grundrechte der Europäerinnen und Europäer festlegen.
Jetzt, mehr als ein Jahr später, werden wir sehen, ob die EU den schönen Worten auch Taten folgen lässt. Die drei am EU-Gesetzgebungsprozess beteiligten Gremien - die Kommission, der Rat der Europäischen Union und das Europäische Parlament - werden in den kommenden Wochen in Trilogsitzungen zusammenkommen, um den DSA zu finalisieren. Nur wenn die Parteien bestimmten Vorschlägen des Parlaments auch zustimmen, kann es gelingen, die Grundrechte der europäischen Bürger tatsächlich angemessen zu schützen und das Chaos zu beenden.
Der erste dieser Vorschläge ist Artikel 13a, der den Einsatz sogenannter Dark Patterns verbieten würde - dabei handelt es sich um Techniken, die darauf abzielen, Nutzer dazu zu bringen, Dinge zu tun, die sie sonst nicht tun würden. Sie reichen von absichtlich komplizierten Zustimmungsprozessen bis hin zum "Privacy Zuckering" und werden häufig eingesetzt, um Nutzer/innen klammheimlich dahin zu führen, dass sie Big Tech ihre sensiblen persönlichen Daten überlassen. Artikel 13a würde diesen "dunklen Mustern" ein Ende setzen und es den Menschen ermöglichen, eine bewusste Entscheidung darüber zu treffen, wie und mit wem sie ihre Daten teilen möchten.
Ein weiterer wichtiger Vorschlag der Abgeordneten ist die Stärkung von Artikel 24, der die gezielte Online-Werbung regelt. Derzeit baut das Geschäftsmodell der Online-Werbebranche darauf auf, persönliche Daten wie Alter, Wohnort, Religion, politische Einstellung und sogar sexuelle Orientierung der Nutzer/innen zu sammeln, um ihre Werbeangebote zielgenau auf die einzelnen Menschen zuzuschneiden. In den meisten Fällen stimmen die Menschen dieser Datenerfassung nicht wissentlich zu, was einen deutlichen Verstoß gegen ihre Privatsphäre und die Allgemeine Datenschutzverordnung darstellt.
Die Abgeordneten haben sich zwar nicht darauf geeinigt, jegliche gezielte Werbung zu verbieten, aber sie haben sich immerhin auf einen Vorschlag geeinigt, der den Zugriff auf sensible personenbezogene Daten, etwa in Bezug auf politische und religiöse Überzeugungen und die sexuelle Orientierung, verbieten würde. Dies würde einen großen Beitrag zum Schutz der Privatsphäre aller Menschen in Europa leisten, insbesondere derjenigen, die bereits Verfolgung und Diskriminierung ausgesetzt sind, wie zum Beispiel LGBTQI+ Menschen.
Das würde auch unseren demokratischen Prozess schützen. Gesammelte persönliche Daten werden längst dazu verwendet, die öffentliche Debatte zu manipulieren, schädliche Inhalte zu verstärken und die Gesellschaft zu spalten. Sie werden verwendet, um Menschen gezielt anzugreifen und um sie in Echokammern zu treiben, die eine, für eine starke und stabile Demokratie so dringend notwendige offene Debatte einzuschränken und statt dessen bestehende Vorurteile aufrechtzuerhalten und zu vertiefen.
Aber es gibt noch einen weiteren Grund, warum die EU gegen gezielte Werbung vorgehen sollte: Die meisten Menschen mögen sie nicht. Eine YouGov-Umfrage unter 2.000 regelmäßigen Nutzern sozialer Medien in Frankreich und Deutschland ergab, dass 57% der Befragten gegen gezielte Werbung jeglicher Art sind und weitere 26% sprachen sich gegen gezielte politische Werbung aus. Auch die Inhaber kleiner und mittlerer Unternehmen lehnen sie ab. 69% gaben an, dass sie sich mit den Praktiken von Big Tech unwohl fühlen, aber meinen, dass sie angesichts ihrer Dominanz in der Branche keine andere Wahl hätten, als mit ihnen zu werben.
Die Abgeordneten fügten zwei weitere Vorschläge hinzu, beide zu Artikel 7, die für den Schutz der Internetnutzer unerlässlich sind. Mit dem einen wird die Verpflichtung zur "allgemeinen und wahllosen Vorratsspeicherung personenbezogener Daten" gestrichen und mit dem anderen wird festgelegt, dass es "keine Eingriffe in das Angebot verschlüsselter Dienste durch die Anbieter" geben darf. Diese Verpflichtungen würden das Risiko von Datenlecks, Identitätsdiebstahl, Einbrüchen in Online-Konten, gezielter Überwachung und Cyberangriffen deutlich minimieren.
Der DSA gibt der EU die Chance, dieses kaputte System zu reparieren. Das massenhafte Sammeln von Daten, das der gezielten Werbung zugrundeliegt, ist ein deutlicher Verstoß gegen die Privatsphäre der Menschen und schafft zudem ein Umfeld, das die Menschen in einer Informationsblase hält und sie daran hindert, fundierte Entscheidungen zu treffen, und das in der Konsequenz sogar freie und faire Wahlen behindert. Internetnutzer wollen nicht von dieser Werbung angesprochen werden, und KMU - der Lebensnerv der europäischen Wirtschaft - wollen sie nicht nutzen. Außerdem gibt es, Stichwort kontextbezogene Werbung, Alternativen zum Targeted Advertising, die für die Werbetreibenden ebenso profitabel sein können.
Die anstehende Entscheidung sollte den Verantwortlichen der EU und der Mitgliedstaaten leicht fallen. Schließlich besteht der Hauptzweck des DSA darin, die Macht von Big Tech einzudämmen und das Internet zu einem sichereren Ort für den normalen Nutzer zu machen - "Ordnung ins Chaos zu bringen". Sollten die vom Europäischen Parlament geforderten Vorschläge nicht angenommen werden, besteht die Gefahr, dass der DSA nicht einmal sein wichtigstes Ziel erreichen kann und wenn das passiert, dann sind es vor allem die Grundrechte der europäischen Bürgerinnen und Bürger, die darunter leiden werden.