Während einer Pandemie ist es entscheidend, dass die Medien die Freiheit haben, Politikern schwierige Fragen zu stellen, denn sie müssen Bürgerinnen und Bürger informieren und dazu beitragen, dass unsere Regierungen die richtigen Entscheidungen treffen. Ebenso müssen die BürgerInnen in der Lage sein, ihre Bedenken gegenüber ihren RepräsentantInnen zu äußern, indem sie zum Beispiel ihr Demonstrationsrecht wahrnemen, oder indem sie auf Initiativen wie Bürgerrechtsorganisationen zurückgreifen, um sicherstellen, dass ihre Regierungen ihre Rechte schützen. In der EU haben Regierungen mit einer autoritären Agenda die Pandemie als Deckmantel benutzt, um Bürgerinitiativen und die Medienfreiheit immer weiter zu unterdrücken. Aber selbst Regierungen in traditionell stärkeren Demokratien machen es den Bürgerinnenn und Bürgern schwerer, ihre Politiker zur Rechenschaft zu ziehen.
Angriffe auf Medien und Journalisten schwächen die Demokratie
Der Medienpluralismus und das Recht auf Informationsfreiheit haben in der gesamten EU einen Schlag erlitten. Besonders in der Tschechischen Republik, in Ungarn, Polen und Slowenien haben die Regierungen ihre Kontrolle über die Medien ausgeweitet. In diesen Ländern ist die Verwüstung der Medienlandschaft beschleunigt vorangeschritten, sie ist Teil eines größeren Zusammenhangs von konzertierten Maßnahmen, die dazu dienem Korruption zu vertuschen und die Demokratie zu schwächen.
In Polen erwarb die staatlich kontrollierte Ölgesellschaft PKN Orlen eine der größten Verlagsgruppen des Landes, Polska Press. Außerdem hat die Regierung ein neues Gesetz entworfen, mit dem eine Steuer auf Werbeeinnahmen eingeführt werden soll. Aus Protest setzten die unabhängigen polnischen Medien ihre Berichterstattung für 24 Stunden aus. In Ungarn verlor der regierungskritische Radiosender Klubrádió seine Lizenz und musste vom Äther gehen. Die regierungsnahe Medienaufsicht weigerte sich, die Lizenz zu verlängern, weil der Sender Dokumente nicht rechtzeitig eingereicht habe, während sie ähnliche administrative Verstöße bei anderen Radiosendern tolerierte. In der Tschechischen Republik besitzt Premierminister Andrej Babiš fast ein Drittel der privaten Medien. Journalisten sind ohne Unterlass mit Online-Hetzkampagnen konfrontiert. Das Land ist in den letzten fünf Jahren im World Press Freedom Index von Reporter ohne Grenzen von Platz 13 auf Platz 40 zurückgefallen.
In Slowenien hat sich die Medienfreiheit rapide verschlechtert, seit am 13. März 2020 Premierminister Janez Janša und seine nationalistische, rechtsextreme Partei SDSan die Macht kamen. Janša hat seine Kontrolle über die Medien ausgebaut. Er hat einetoxische Medienlandschaft gefördert und Bürgerrechts- und Demokratie Initiativenins Visier genommen. Die Regierung hat die nationale Presseagentur durch Verleumdungskampagnen, Mittelkürzungen (die auf Druck der Europäischen Kommission rückgängig gemacht wurden) und Änderungen des regulatorischen Rahmens unter Druck gesetzt und damit die Unabhängigkeit der Agentur gefährdet. Online-Übergriffe gegen Journalisten haben ein Klima der Angst geschaffen. Janša hat Journalistinnen mit der frauenfeindlichen Beleidigung "Presstituierte" angegriffen. Um ihre Sicherheit und psychische Gesundheit zu schützen, haben JournalistInnen darauf mit Selbstzensur reagiert. Die Europäische Kommission hat die Angriffe des Premierministers auf die Medien kritisiert, aber Inititiativen für Pressefreiheit fordern, dass sie ernsthaftere Maßnahmen ergreift.
Aber auch jenseits der autoritär geprägten Länder sehen sich unabhängige JournalistInnen und andere kritische Stimmen einem zunehmend feindlichen Umfeld ausgesetz. Dazu gehören Verleumdungskampagnen und Einschüchterung durch Online-Belästigung und sogar physische Gewalt. Missbräuchliche Klagen, sogenannte SLAPPs, sind ebenfalls auf dem Vormarsch. Und selbst in EU-Ländern mit einer starken Tradition des Schutzes der freien Meinungsäußerung gibt es derzeit keine Schutzmechanismen für Personen die solchen Machenschaften ausgesetzt sind. Gerade diese Woche findet in Schweden eine Anhörung zu SLAPPs statt, die gegen die schwedische Publikation Realtid, ihren Redakteur und JournalistInnen eingesetzt wurden, weil sie im vergangenen Jahr eine bevorstehende Börseneinführung in Norwegen durch den Geschäftsmann Svante Kumlin und seine Unternehmensgruppe Eco Energy World aufgedeckt hatten.
Regierungen machen es BürgerInnen und AktivistInnen schwerer, in der Demokratie mitzureden
Regierungen mit autoritären Tendenzen haben die Pandemie als Vorwand genutzt, um weiter gegen AktivistInnen und Bürgerrechtsgruppen vorzugehen. Sie haben regelmäßig zu Methoden wie restriktiven Gesetzen, rechtlichen Schikanen, Verhaftungen von AktivistInnen und Verleumdungskampagnen gegriffen.
Die ungarische Regierung schikaniert und behindert weiterhin die Finanzierung von Organisationen, die sich für Gleichberechtigung, eine humane Behandlung von Neuankömmlingen, den Kampf gegen Korruption und andere demokratische Freiheiten einsetzen. Die polnische Regierung hat einen neuen Gesetzesentwurf vorgelegt, der darauf abzielt, Vereine zu diskreditieren, die Gelder aus dem Ausland erhalten. Die Regierung, die zunächst die ehemals unabhängige öffentliche Finanzierung von Wohltätigkeitsorganisationen unter politische Kontrolle gebracht hat, weigert sich nun, Organisationen zu finanzieren, die ihre ultrakonservative Agenda nicht teilen. Zusätzlich hat sie ihre Angriffe auf Vereine und AktivistInnen, die sich fürLGBTQ-Rechte einsetzen, noch verstärkt. In Slowenien hat die Regierung versucht, die öffentliche Meinung gegen kritische Menschenrechtsgruppen aufzuhetzen, indem sie sie beschuldigt, öffentliche Gelder zu verschwenden, die eigentlich den Bürgern zugute kommen sollten. Medien, die der Regierungskoalition nahestehen, traten heftige Verleumdungskampagnen los, um den Ruf der Organisationen zu zerstören.
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Auch anderswo gerät die Zivilgesellschaft zunehmend unter Druck. In der Slowakei gibt es ein zunehmend aggressives Narrativ gegen Bürgerrechtsgruppen, vor allem im Bereich der Gleichberechtigung. Die kroatische Regierung hat Verbänden den Zugang zu EU-Geldern erschwert, indem sie die Regeln für Ausschreibungsverfahren absichtlich nicht einhielt. In Deutschland operieren Bürgerrechtsgruppen unter der Bedrohung, ihren Gemeinnützigkeitsstatus zu verlieren. Einige Politiker und kommerzielle Lobbyisten nutzen vage und veraltete Gesetze aus, um zu verhindern, dass Aktivisten der Öffentlichkeit helfen, pro-ökologische und globalisierungskritische Meinungen zu äußern. Im März 2021 verlor beispielsweise die Kampagnengruppe Change.org ihren Gemeinnützigkeitsstatus, weil sie sich weigerte, eine Petition zu löschen, die Nestlé dazu drängte, die Verwendung von Einweg-Plastikflaschen einzustellen. In Italien und Spanien ist eine Zunahme von SLAPPs (strategische Klagen) gegen BürgerrechtsaktivistInnen und Aktivisten zu verzeichnen.
Verbände in der gesamten EU werden außerdem zunehmend von öffentlichen Konsultationen ausgeschlossen, was es schwierig macht, Politiker über die Anliegen der Bürger zu informieren. Dies bringt kritische Stimmen zum Schweigen und macht es den Regierungen leichter, umstrittene Gesetze zu verabschieden.
Funktionierende Demokratien verhindern schlechte Gesetzgebung
Einige Länder sind im Umgang mit der Pandemie zu weit gegangen. Ein generelles Verbot von Protesten zum Beispiel ist eine unverhältnismäßige Maßnahme. Das Recht auf Protest muss aufrechterhalten werden, wenn die Teilnehmenden die Gesundheitsrichtlinien respektieren. In Ländern mit starken demokratischen Traditionen und Prinzipien, in denen solche Maßnahmen kein Versuch sind, die Demokratie abzubauen, konnten die Gerichte und der öffentliche Druck das Problem manchmal, wenn auch nicht immer, korrigieren.
In Spanien zum Beispiel schickte die Regierung während des Ausnahmezustands, der von März bis Juni 2020 andauerte, Polizei und Militär auf die Straße. Während dieser Zeit gab es zahlreiche Beschwerden über den Einsatz von Racial Profiling und Polizeibrutalität. Die Regierung verbot zwar einige Proteste aus legitimen gesundheitlichen Gründen, aber auch Spaniens Verfassung erlaubt es nicht, das Versammlungs- und Demonstrationsrecht generell auszusetzen.
Frankreichs Regierung legte einen neuen Gesetzesentwurf vor, um den "neuen Herausforderungen für die französische Sicherheit" zu begegnen. Artikel 24 des Gesetzentwurfs soll die Verbreitung eines Bildes eines/einer Polizeibeamten für illegal erklären, wenn diese "mit der Absicht zu schaden" geschieht. Pressefreiheitsgruppen wie "Reporter ohne Grenzen" kritisierten den umstrittenen Artikel. Infolge des heftigen öffentlichen Drucks versprach ldas französische Parlament den Gesetzentwurf zu überarbeiten.
Der Niedergang des Medienpluralismus und das Schrumpfen des zivilgesellschaftlichen Raums ist ein Phänomen, das schon vor der Pandemie auftrat. In schlecht regierten Ländern haben sich diese Trends beschleunigt und es somit schwieriger gemacht, der Pandemie auf eine Weise zu begegnen, die für die Menschen am besten ist.
Was die EU jetzt tun muss
Die EU hat eine Reihe von Befugnissen, die sie nutzen kann, um unsere Demokratien zu schützen. Der jährliche Bericht der Europäischen Kommission, mit dem sie die demokratische Bilanz der EU-Länder prüft, ist ein wichtiger Schritt. Aber dieser Bericht muss klare Empfehlungen an die einzelnen Länder enthalten. Regierungen, die die Empfehlungen ignorieren und der Rechtsstaatlichkeit schaden, sollten mit Sanktionen rechnen müssen, wie z.B. Gerichtsverfahren oder die Aussetzung von EU-Geldern. Und die Kommission sollte ihre finanziellen Möglichkeiten nutzen, um JournalistInnen und AktivistInnen zu unterstützen, die helfen, die Demokratie vor Ort zu fördern und zu schützen.Liberties' neuer Bericht 'EU 2020: DEMANDING ON DEMOCRACY " deckt schädliche Praktiken auf, die die Rechtsstaatlichkeit in 14 EU-Ländern beeinträchtigen. Es ist die gründlichste Untersuchung dieser Art durch ein NRO-Netzwerk, die die Entwicklungen im Jahr 2020 abdeckt. Der Bericht wurde von Liberties zusammen mit seinen Mitglieds- und Partnerorganisationen erstellt, um die diesjährige Konsultation der Europäischen Kommission über den Zustand der Rechtsstaatlichkeit in der EU zu unterstützen.